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Am Ende der Kette: Um ihre Investitionen bestreiten zu können, sparen die Kliniken am Personal.

© dpa/Waltraud Grubitzsch

„Indirekter Nebeneffekt der Pandemie“: Mehr Patienten starben an Infektionen durch multiresistente Keime

Trotz strenger Corona-Hygiene haben sich 2020 mehr Menschen Infektionen im Krankenhaus zugezogen. Experten vermuten Überforderung des medizinischen Personals.

Die Zahl der Infektionen, die sich Patienten durch Aufenthalt in Behandlung in deutschen Kliniken zuziehen, hat sich trotz verschärfter Hygienevorgaben während der Corona-Pandemie nicht verringert. Im Gegenteil: Sie ist sogar noch weiter gestiegen. Das geht aus dem neuen Barmer-Krankenhausreport hervor, der in Berlin vorgestellt wurde. Bis Ende des Jahres 2020 gab es demnach deutschlandweit etwa 34.000 zusätzlich Infizierte und bis zu 1.300 weitere Todesfälle aufgrund sogenannter nosokomialer Infektionen, viele davon hervorgerufen durch multiresistente Keime.

Der Vorstandschef der Krankenkasse, Christoph Straub, hat zwei Erklärungen für die auf den ersten Blick überraschende Entwicklung. Zum einen hätten gerade während der ersten Welle weniger leichte Fälle und deutlich mehr ältere und schwerer erkrankte Menschen auf den Stationen gelegen, die anfälliger für Infektionen seien, sagte er. Dazu komme die hohe Arbeitsbelastung für das Klinikpersonal, dem es zu Beginn der Pandemie mitunter auch noch an Schutzausrüstung gefehlt habe.

„Das Krankenhauspersonal war während der Corona-Pandemie offenbar so belastet, dass es die hohen erforderlichen Hygienestandards nicht immer vollständig einhalten konnte“, bekräftigte der Mitautor des Reports und Leiter des Kompetenzbereichs „Gesundheit“ am RWI-Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen, Boris Augurzky. Dabei sei das „gerade in Pandemiezeiten ein extrem wichtiger Aspekt, der über Leben und Tod entscheiden kann“.

Der Studie zufolge kam es in den Jahren 2017 bis 2019 durchschnittlich in rund 5,6 Prozent der Fälle in Krankenhäusern zu einer nosokomialen Infektion. Dies geht aus einer Stichprobe von fünf Millionen Fällen hervor. Unmittelbar zu Beginn der Pandemie stieg dieser Wert dann auf 6,8 Prozent an, was einem Zuwachs von über einem Fünftel binnen weniger Wochen entspricht. Das ganze restliche Jahr über blieb die Quote dann bei mehr als sechs Prozent.

„Indirekter Nebeneffekt der Pandemie“

Bei der Untersuchung habe das vierköpfige Autorenteam sorgsam darauf geachtet, „nicht Äpfel mit Birnen zu vergleichen“, betonte Augurzky. Tatsächlich nämlich sei die Zahl der Klinikpatienten in der ersten Phase der Pandemie um bis zu 46 Prozent zurückgegangen. Behandelt worden seien zu dieser Zeit vor allem schwerere Fälle mit höherem Infektionsrisiko. Doch selbst wenn man die veränderte Patientenstruktur durch Adjustierung gesondert berücksichtige, zeige sich ein Anstieg des Infektionsgeschehens um fast zehn Prozent in der ersten und um 17,5 Prozent in der zweiten Welle bis Ende 2020.

Nicht nur aus Sicht der Patientinnen und Patienten müsse alles getan werden, um diese Infektionen zu verhindern, so der Krankenhausexperte. Die Behandlung der Infizierten sei mit Zusatzkosten von jährlich rund 1,5 Milliarden Euro auch extrem teuer für die Versichertengemeinschaft.

Pflichtprogramm im Krankenhaus: Händedesinfizieren vor jedem Patientenkontakt.
Pflichtprogramm im Krankenhaus: Händedesinfizieren vor jedem Patientenkontakt.

©  dpa/Patrick Pleul

„Die erhöhte Wahrscheinlichkeit, eine nosokomiale Infektion zu erlangen, scheint ein indirekter und unerwünschter Nebeneffekt der Pandemie zu sein“, resümierte Augurzky. Allerdings erkrankten in Deutschland auch ohne Corona jährlich etwa 400.000 bis 600.000 Patient:innen an einer Krankenhausinfektion, und in 10.000 bis 15.000 Fällen verliefen diese tödlich. Aus Sicht der Forscher wären etwa 30 Prozent dieser Infektionen durch geeignete Prävention vermeidbar.

Aufgrund der anhaltenden Brisanz müsse das Thema Krankenhaushygiene „ein nationales Gesundheitsziel“ werden, forderte Kassenchef Straub. Schließlich investiere man auch viele Milliarden, um die Zahl der Unfälle im Straßenverkehr zu verringern, argumentierte er. „Wir brauchen einen Masterplan und eine konzertierte Aktion.“ Und zuvorderst seien dafür bessere Daten und eine Evaluation der bisherigen Maßnahmen vonnöten.

Kassenchef fordert unangekündigte Hygienekontrollen

Konkret benötige man etwa mehr Auseinandersetzung mit Klinikhygiene in der Ausbildung von Ärzt:innen und Pflegekräften, sagte Straub. Solches Wissen müsse dann „im Berufsalltag vertieft und zur täglichen Routine werden“. Dazu bedürfe es verlässlicher Verfahren und geschulter Mitarbeiter, die das Einhalten von Hygienestandards überwachen und bei Bedarf weiterentwickeln könnten. 

In den Krankenhäusern würden zwar bereits Hygienefachkräfte eingesetzt. „Akzeptanz und Arbeit dieser Fachkräfte müssen aber im Arbeitsalltag gestärkt werden, damit in Ausnahmesituationen wie einer Pandemie höhere Hygieneanforderungen nicht zu Stresssituationen führen.“

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Daneben gelte es mehr Transparenz über nosokomiale Infektionen in den Krankenhäusern zu schaffen. Die entsprechenden Laborbefunde gelangten bisher nicht in die Abrechnungsdaten der Krankenkassen, bemängelte Straub. Dadurch könnten die im Krankenhaus erworbenen Infektionen derzeit nur annäherungsweise bestimmt werden. Künftig bedürfe es einer „eindeutigen Abbildung dieser Infektionen“ im Klassifizierungssystem für medizinische Diagnosen, dem sogenannten ICD-Katalog.

Zudem müsse deren Kodierung in der Abrechnung mit den Kassen verpflichtend werden. Sie sollte aus der Sicht des Kassenchefs „sowohl den Erregertyp unterscheiden sowie die Tatsache, ob die Infektion vor oder während eines Krankenhausaufenthalts aufgetreten ist“. Damit ließen sich wertvolle Rückschlüsse ziehen, an welcher Stelle Hygienemaßnahmen verbessert werden müssten. 

Die Einhaltung der Hygienestandards sei aber nicht nur intern, sondern auch durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst stärker als bisher und auch unangekündigt zu überprüfen, drängte Straub. Wenn Mängel Auslegungssache blieben und lediglich moniert, nicht aber öffentlich gemacht werden könnten, seien auch Kontrollen „zahnlose Tiger“.

Deshalb solle der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) mit dem Robert Koch-Institut (RKI) eine Richtlinie mit verbindlichen Mindestanforderungen erarbeiten. Die Kliniken müssten das Einhalten dieser Vorgaben dann in ihren Qualitätsberichten veröffentlichen.

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