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Im Ausnahmezustand. Ein Krematoriums-Angestellter in Neu-Delhi vollzieht die letzte Ölung bei einem Corona-Opfer.

© dpa

Indien in der Pandemie: „Wir sind am Ende“

Die Corona-Pandemie trifft Indien mit voller Wucht. Auch immer mehr Kinder erkranken – und die Impfkampagne stockt.

Bis zuletzt sendete der indische Journalist Vinay Srivastava verzweifelte Hilferufe auf Twitter. „Wann hilft mir jemand? Ich brauche dringend Sauerstoff.“ Es war sein letzter Tweet. Wenig später starb der 65-Jährige am Freitagabend an Covid-19, während er auf einen Krankenwagen wartete.

Am Sonntag meldete Indien 261 500 Corona-Neuinfektionen innerhalb eines Tages und 1501 Corona-Tote. Die Gesamtzahl der indischen Corona-Fälle stieg auf fast 14,8 Millionen, insgesamt starben bislang 177 150 Inder.

„Das ist schlimmer als der Zweite Weltkrieg“, schimpft Jalil Parkar, Lungenfacharzt am Lilavati Hospital in Mumbai. Mehr als 800 Ärzte sind in Indien an Covid-19 verstorben. „Wir sind erschöpft, wir sind am Ende“, sagte Parkar der „Hindustan Times“.

Mumbai ist besonders schwer von der neuen Corona-Welle betroffen, die Indien heimsucht. Im privaten Vinayaka-Krankenhaus in Chembur, etwa eine Stunde entfernt von Mumbai, starben acht Patienten an einem Tag, weil die Sauerstoff-Reserven erschöpft waren.

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Mehr als 150 Krankenhäuser warten seit einem halben Jahr darauf, eine Anlage zur Abfüllung von medizinischem Sauerstoff zu bekommen, so wie die Regierung es zugesagt hat. Auch Corona-Medikamente wie Remdesivir oder Tocilizumab sind in den Kliniken ausgegangen. In den sozialen Medien suchen verzweifelte Angehörige nach solchen Präparaten.

Die Menschen baden im Ganges, als gäbe es kein Corona

Selbst die Krematorien kommen nicht mehr hinterher. In der vergangenen Woche wurden in die Kurukhsetra-Verbrennungsstätte in der Stadt Surat jeden Tag mehr als 100 Corona-Tote gebracht. Bei der Verbrennung der Leichen rund um die Uhr schmolzen die Metallgerüste der Öfen.

Als Reaktion auf die Krise haben zahlreiche Großstädte Ausgangssperren und Lockdowns erlassen. In der Hauptstadt Neu Delhi werden Hotels und Festsäle zu Behandlungszentren für weniger schwer Erkrankte umgewandelt.

Massenbad im Ganges.
Massenbad im Ganges.

© REUTERS

Sorge bereitet das Auftreten einer neuen Virusmutante: Die Variante B.1.617 ist in dem stark heimgesuchten Bundesstaat Maharashtra bereits für über 60 Prozent der neuen Corona-Erkrankungen verantwortlich. Diese erstmals Anfang des Jahres in Indien aufgetauchte Variante hat eine doppelte Mutation im Spike-Protein des Virus und ist weit ansteckender als der Virus-Wildtyp.

Es wird spekuliert, dass diese neue Variante für die neue Corona-Welle mitverantwortlich ist. Krankenhäuser berichten, dass inzwischen auch die Anzahl der behandelten Kinder zunimmt. Einen starken Zuwachs gibt es in der Altersgruppe der Ein- bis Fünfjährigen.

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Indiens Gesundheitssystem ist chronisch unterfinanziert. Weniger als zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes entfallen auf den Bereich. Das von der indischen Regierung vollmundig angekündigte „größte Impfprogramm der Welt“ stockt, weil von Beginn an viel zu wenig Geld in den Sektor gesteckt wurde, in der Hoffnung, die Privatwirtschaft würde die Dinge schon richten.

Religiöse und politische Massenversammlungen

Nun klagt das Serum Institute of India (SII), der größte Impfstoffhersteller der Welt, über massive Engpässe bei den Rohmaterialien für seine Produktion. Das SII hat bereits seine Lieferungen an das Ausland auf Null zurückgefahren, um den heimischen Markt zu beliefern. Nur 2,5 Prozent der indischen Bevölkerung sind bislang vollständig gegen das Coronavirus geimpft. Bei diesem Tempo könnte ein Jahrzehnt vergehen, bis 70 Prozent der 1,3 Milliarden Inder eine Corona-Spritze erhalten haben.

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Trotz der schweren Krise geht etwa die über einen Monat dauernde Mega-Wahl im indischen Bundesstaat West Bengalen unverändert weiter. Auch die Kumbh Mela, die größte religiöse Massenveranstaltung der Welt, findet statt als gebe es keine Pandemie. Bislang haben im nordindischen Haridwar fast fünf Millionen Hindu-Pilger ein traditionelles Bad im Ganges-Fluss genommen, viele von ihnen ohne Mund-Nasen-Schutz.

„Die Bilder von Wahlkampfveranstaltungen, von religiösen Versammlungen, vom Bauern-Protest – jede Form der Massenversammlung – sind nicht nur idiotisch, sei sind auch eine Beleidigung für die Ärzte, die an vorderster Front kämpfen“, kritisierte die indische TV-Reporterin Barkha Dutt in der „Hindustan Times“.

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