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Politik: „In Estland wurde der Cyber-Krieg getestet“

Regierungschef Ansip über Internetangriffe gegen sein Land, den Streit mit Russland um das Kriegerdenkmal – und Angela Merkel

In Berlin haben Sie mit Bundeskanzlerin Angela Merkel über einen Ausweg aus der europäischen Verfassungskrise geredet. Was bedeutet Europa für Sie?

Estland ist ein proeuropäisches Land. Nach einer neuen Umfrage sind 85 Prozent der Esten für die Mitgliedschaft in der EU. So hoch war die Zustimmung noch nie. Das haben wir auch Angela Merkel zu verdanken.

Wieso das?

Wir haben schwere Tage hinter uns. Im Konflikt um die Angriffe auf unsere Botschaft in Moskau hat Merkel sehr gute Arbeit geleistet. Wir sind sehr froh, dass sich die Regierungschefin eines so großen Landes um die kleinen Mitgliedsländer kümmert und unsere Gefühle versteht. Die EU und die Nato haben uns mit starken Stellungnahmen unterstützt. Es ist gut zu wissen, dass man nicht allein ist. Außenminister Steinmeier hat gesagt, dass 500 Millionen Einwohner der EU an unserer Seite standen. Wir wünschen uns eine starke EU. Der Verfassungsvertrag ist ein guter Kompromiss, und es wäre schwierig, daran wieder jedes einzelne Wort zu ändern. Aber wir müssen jetzt weiterkommen. Deshalb werden wir konstruktiv an einer Lösung mitarbeiten.

Nach der Umsetzung eines sowjetischen Kriegerdenkmals in Tallinn vor einem Monat kam es zu gewaltsamen Protesten. Warum ist die Situation derart eskaliert?

An seinem alten Platz hatte das Denkmal drei Bedeutungen: neben dem Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkrieges erinnert es auch an die Sowjetunion, die manche wiederherstellen wollen. Außerdem ist es ein Symbol der sowjetischen Besetzung. 100 000 Esten wurden in dieser Zeit getötet oder nach Sibirien deportiert, weitere 100 000 mussten emigrieren. Das löst bis heute starke Gefühle aus, die ernst genommen werden müssen. Die Spannungen wurden nicht in Estland geschürt, sondern außerhalb des Landes. Einige hochrangige Politiker in Russland denken, dass die drei baltischen Staaten immer noch Teil der Sowjetunion sind. Jetzt haben sie zum ersten Mal verstehen müssen, dass Estland unabhängig ist und der EU und der Nato angehört.

Der Konflikt führte auch zu Internetangriffen gegen estnische Webseiten.

Es war das erste Mal, dass ein unabhängiger Staat einem Cyber-Angriff ausgesetzt war. Seiten von Regierungsbehörden und Zeitungen wurden angegriffen. Nicht nur das Territorium oder der Luftraum, auch der Cyberspace ist heute Teil der Souveränität eines Staates. Die schweren Angriffe waren auch für andere Länder ein Alarmsignal. Jetzt widmet die Nato Cyber-Angriffen mehr Aufmerksamkeit, auch die EU kümmert sich stärker um Internetsicherheit.

Estland gilt als führend in Europa, was die Nutzung des Internets und das E-Government angeht. Wie stark haben die Angriffe Ihrem Land geschadet?

Wenn jemand einen Hafen oder einen Flughafen in einem unabhängigen Staat zu blockieren versucht, oder wenn jemand über das Internet Regierungsbehörden zu blockieren versucht – wo ist da der Unterschied? In Estland wurde das Modell eines neuen Cyber-Krieges getestet. Wir konnten mit diesen Angriffen fertig werden. Zum Glück waren daher die Auswirkungen im Alltag sehr gering.

Sie haben Russland vorgeworfen, einige Angriffe seien von Computern der Regierung gekommen. Den Urheber solcher Angriffe zu finden gilt als sehr schwer. Haben Sie Beweise für eine Beteiligung Russlands?

Aus unserer Sicht ist das keine Frage. Es ist absolut klar, dass einige Angriffe von IP-Adressen des Kremls kamen. Natürlich kann man immer sagen, dass jemand diese Adressen benutzt hat. Aber so weit ich weiß, leistet der Geheimdienst FSB gute Arbeit, was die Kontrolle der Internetbenutzer angeht. Es scheint mir sehr unwahrscheinlich, dass man einfach so IP-Adressen des Kremls benutzen kann. Aber selbst wenn die organisierte Kriminalität dahinterstecken sollte: Wir müssen uns bemühen, solche Angriffe in Zukunft zu verhindern. Das ist ein Problem, das alle Staaten angeht.

Wie haben die jüngsten Ereignisse das Verhältnis zu Russland geändert?

Auf politischer Ebene gibt es genügend Raum für Verbesserungen. Es ist derzeit schwer, ein Land zu finden, das wirklich ein gutes Verhätlnis zu Russland hat. Estland wünscht sich gute Beziehungen zu allen seinen Nachbarn – aber das müssen dann auch beide Seiten wollen. Wir sind bereit für eine Partnerschaft.

Ist eine strategische Partnerschaft zwischen der EU und Russland noch möglich?

Natürlich. Wir müssen mit Russland weiter verhandeln und dürfen nicht von Anfang an nein sagen. Allerdings brauchen wir eine Balance zwischen Interessen und Werten. Die Werte dürfen wir auf keinen Fall vergessen, weil sie die eigentliche Grundlage der EU sind.

Die Fragen stellte Claudia von Salzen.

Andrus Ansip (50) ist seit 2005 Ministerpräsident Estlands. Im März wurde der Chef der Reformpartei wiedergewählt. Der gelernte Chemiker machte zuvor als Bankmanager Karriere.

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