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Gabriel Boric gibt sich marxistisch und holt damit die nach den Massenprotesten frustrierten Chilenen ab.

© Martin Bernetti/AFP

Im Kampf gegen Ungerechtigkeit: Jung, idealistisch, tätowiert – Gabriel Boric ist Chiles neuer Präsident

Gabriel Boric ist als Marxist und Protestführer bekannt. Nun wurde er zu Chiles Präsidenten gewählt. Das Porträt eines ungewöhnlichen Mannes.

Gabriel Boric ist ein durch und durch ungewöhnlicher Präsident: Nur 35 Jahre jung, idealistisch und tätowiert. Der stämmige Mann mit dem Vollbart stammt nicht aus einer angesehenen Familie der chilenischen Hauptstadt Santiago, nein, er ist Kind einer Einwandererfamilie aus der patagonischen Provinz, wo Gletscher aus dem Boden ragen und die Menschen als Schafzüchter ihren Lebensunterhalt verdienen.

Boric hat keine klassische Politkarriere hingelegt, sich nicht lange durch die Parteiinstanzen hochgedient und dabei abgeschliffen. Sein politisches Katapult waren studentische Straßenproteste, die in den Massendemonstrationen im Jahr 2019 gegen den damaligen Präsidenten gipfelten. „Das aktuelle System macht mich wütend“, ist einer seiner Standardsätze.

Boric war mit seiner Empörung zur richtigen Zeit zur Stelle: Als das traditionelle Parteiensystem kollabierte, verstand er es, den Überdruss der Chilenen zu adressieren. Nun wird er ab März vier Jahre im Präsidentenpalast Moneda das Zepter führen.

Geboren wurde Boric am 11. Februar 1986 in Punta Arenas als ältester von drei Jungs einer Familie kroatischer Herkunft. Sein Vater war Chemieingenieur und stand den Christdemokraten nahe. Boric ging zum Jurastudium an die staatliche Universität der Hauptstadt Santiago und war von Anfang an in der marxistisch-autonomen linken Studentenbewegung politisch aktiv.

Zwischen 2011 und 2012 leitete er zusammen mit der kommunistischen Studentenführerin Camila Vallejo die landesweiten Proteste gegen das privatisierte Bildungssystem. So machte sich der hemdsärmelige, bärtige Mann schon früh einen Ruf als Feind der Elite.

Gabriel Boric nach der Präsidentschaftswahl.
Gabriel Boric nach der Präsidentschaftswahl.

© Imago/Aton Chile

Mit gereckter, geballter Faust prangerte er scharfzüngig ihre Privilegien und ihre Scheinheiligkeit an, führte ihr die Schwachstellen des neoliberalen Wirtschaftsmodells vor, kritisierte aber auch das Mitte-Links-Bündnis „Concertación“ als viel zu zögerlich, lasch und einfallslos.

Seine politische Heimat bleibt diffus

Der linken Bürgerbewegung Frente Amplio, deren Mitbegründer er im Jahr 2016 war, riet er, sich mehr politisch und weniger moralisch zu positionieren. 2013 zog er als Unabhängiger ins Parlament ein. Sein Studium litt unter seinem politischen Aktivismus: Bis heute hat er kein Abschlussexamen gemacht.

Der Kampf gegen die Ungleichheit ist ein treibender Faktor hinter seinem politischen Engagement. Seiner Meinung nach stürzen Gesellschaften, die sich nicht um soziale Gerechtigkeit bemühen, ins Chaos oder löschen sich selbst aus.

Wahlkampf in Santiago.
Wahlkampf in Santiago.

© REUTERS/Rodrigo Garrido/File Photo

Trotz seiner Jugend und seiner progressiven Vorstellungen von Umweltschutz und Gleichberechtigung von Minderheiten wirkt seine Wohnung in der Hauptstadt eher klassisch: Dort finden sich Bücherregale statt High-Tec. Marxistische Denker wie der langjährige bolivianische Vizepräsident Alvaro Garcia-Linera haben ihn ebenso inspiriert wie der italienische Soziologe Antonio Gramsci.

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Seine politische Heimat bleibt aber diffus. In seinen Reden klingt er mal kämpferisch, wie ein lateinamerikanischer sozialistischer Revolutionär, mal besonnen wie ein nordeuropäischer Sozialdemokrat. In Krisensituationen wie 2019 zeigte er sich pragmatisch: Er war einer derjenigen, die mit der Regierung die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung aushandelten.

Manche Weggenossen warfen ihm deshalb vor, „mit der Rechten paktiert“ zu haben. Von Wirtschaft habe er wenig Ahnung, kritisieren seine Gegner, seine Zahlen seien oft unpräzise und widersprüchlich.

In den kommenden vier Jahren wird er nun in einem polarisierten Umfeld sein ganzes Talent an den Tag legen müssen. Stellvertretend dafür ist vielleicht eines seiner Tattoos: Es zeigt einen Leuchtturm, wie sie in Patagonien so zahlreich sind, umgeben von einem wild tosenden Meer.

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