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In Trümmern. Zehntausende sind in Berg-Karabach auf der Flucht.

© Aziz Karimov/AP/dpa

Hunderte Tote, Zehntausende auf der Flucht: Wie gefährlich ist der Krieg um Berg-Karabach?

In Berg-Karabach eskaliert der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan. Warum gerade jetzt – und wer steckt hinter dem Krieg im Kaukasus? Ein Überblick.

Die Hoffnung auf ein Ende der Gewalt, vielleicht sogar auf Frieden, währte nur kurz. Der Krieg um die Enklave Berg-Karabach im Kaukasus geht trotz einer von Russland organisierten Feuerpause weiter. 

Ein Wohngebiet der aserbaidschanischen Stadt Gandscha wurde nach Regierungsangaben in der Nacht zum Sonntag von armenischen Raketen getroffen. Sieben Menschen seien getötet worden.

Zuvor hatte Armenien den Aserbaidschanern vorgeworfen, die Gegend um die armenische Stadt Kapan bombardiert zu haben. Fast 30 Jahre lang galt der Streit um Berg-Karabach als „eingefrorener Konflikt“, der zwar nicht beigelegt ist, bei dem alle Beteiligten aber mit einem Schwebezustand zu leben gelernt haben.

Für manche Akteure wie Russland könnte es so bleiben. Doch der Konflikt ist aufgetaut – auch weil die Türkei sich einmischt.

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Warum eskaliert der Konflikt gerade jetzt?

Beim Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 hatten armenische Separatisten in Berg-Karabach – einer vornehmlich armenisch besiedelten Gegend in Aserbaidschan – die Unabhängigkeit ausgerufen. In einem Krieg gegen Aserbaidschan, der bis 1994 dauerte und 30.000 Menschen das Leben kostete, eroberten sie mehrere Gebiete außerhalb von Karabach.

Völkerrechtlich blieben Berg-Karabach und Umgebung zwar ein Teil Aserbaidschans, doch in der Praxis haben die Armenier seitdem dort das Sagen. Moskau ist ein enger Partner Armeniens und hat ein Beistandsabkommen mit der Führung in Eriwan unterschrieben. Zugleich liefert Russland aber auch Waffen an Aserbaidschan.

Mehrmals gab es seit den 90er Jahren Zusammenstöße an der Front von Berg-Karabach; zuletzt starben vor vier Jahren rund 200 Menschen. In diesem Sommer brachen an der aserbaidschanisch-armenischen Grenze weit weg von Berg-Karabach neue Kämpfe aus.

Ilham Alijew, der autokratisch regierende Präsident Aserbaidschans, geriet wegen der Situation innenpolitisch in Bedrängnis. Im Juli forderten Tausende in der Hauptstadt Baku, Alijews Regierung solle Berg-Karabach für Aserbaidschan zurückerobern.

Feuer frei. Ein armenischer Soldat beschießt aserbaidschanische Stellungen.
Feuer frei. Ein armenischer Soldat beschießt aserbaidschanische Stellungen.

© Armenian Defense Ministry/AP/dpa

Armenien und Aserbaidschan werfen sich gegenseitig vor, die neuen Gefechte am 27. September angezettelt zu haben. In dem Krieg, der sich mittlerweile auf Gebiete außerhalb der umkämpfen Enklave ausweitet, sind bisher mehr als 300 Menschen ums Leben gekommen. Überprüfbare Zahlen gibt es allerdings nicht.

Die russische Regierung hatte die verfeindeten Nachbarn in der Nacht zum Samstag zwar auf eine Waffenruhe verpflichtet. Doch ein hochrangiger aserbaidschanischer Regierungsvertreter sagte kurz nach Inkrafttreten in Istanbul, diese „zeitlich begrenzte humanitäre Feuerpause“ diene lediglich dazu, Gefangene und die Leichen Gefallener auszutauschen. Die Kämpfe ganz zu beenden, kommt demnach nicht in Frage.

Worum geht es?

Aus Sicht von Aserbaidschan und Türkei geht es um die Beendigung der armenischen Herrschaft über Berg-Karabach und damit um die Beseitigung eines völkerrechtswidrigen Zustandes. Armeniens Ministerpräsident Nikol Paschinjan sagt dagegen, es handele sich um einen aserbaidschanisch-türkischen „Terroranschlag“.

Sein Land sehe sich einer „Fortsetzung des Völkermordes an den Armeniern“ und einer „Politik zur Wiedererrichtung des türkischen Reiches“ gegenüber.

Außerdem wird ein regionaler Machtpoker im Kaukasus erkennbar. Als traditionelle Ordnungsmacht strebt Russland einen Ausgleich unter der Kontrolle des Kremls an; doch die politische und militärische Unterstützung der Türkei für Aserbaidschan hat die Gleichgewichte in der Region verändert. Ankara will gegen den Widerstand Moskaus ein türkisches Mitspracherecht im Kaukasus durchsetzen.

Was treibt Erdogan an?

Innenpolitisch ist die Solidarität mit Aserbaidschan für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan potenziell gewinnbringend. Politik und Öffentlichkeit in der Türkei sehen das muslimische Aserbaidschan als Bruderstaat. In Istanbul gab es in den vergangenen Wochen mehrmals Solidaritätskundgebungen für Aserbaidschan.

Außenpolitisch will die Türkei ihre Position im Kaukasus stärken und Russland dazu bringen, Ankara als Akteur in der Region zu akzeptieren. Das entspricht der neuen türkischen Außenpolitik, nach der sich das Land als eigenständige Regionalmacht sieht.

Recep Tayyip Erdogan hilft Aserbaidschan.
Recep Tayyip Erdogan hilft Aserbaidschan.

© Pavel Golovkin/Reuters

Das zeigt sich auch an anderen Orten: Die Türkei mischt in den Konflikten in Syrien und Libyen mit und legt sich im Gasstreit im östlichen Mittelmeer mit den Europäern an. Erdogan, der im Syrien-Krieg eng mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zusammenarbeitet, will auch im Kaukasus mit dem Kremlchef auf Augenhöhe verhandeln.

Wie weit die türkische Hilfe für Aserbaidschan geht, ist umstritten. Alijew gab jetzt zu, dass türkische Kampfflugzeuge in Aserbaidschan stationiert sind. Nach armenischen Angaben haben die türkischen Jets bereits in die Gefechte eingegriffen; die Regierung in Ankara bestreitet das.

Welche Rolle spielen ausländische Kämpfer und Islamisten?

Die Türkei soll syrische Milizionäre in den Kaukasus geschickt haben, um auf der Seite Aserbaidschans zu kämpfen – das werfen Armenien, Frankreich und Russland der Erdogan-Regierung vor.

Auch die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtet, fast 1500 Syrer seien über die Türkei in den Kaukasus gebracht worden; mehr als 100 von ihnen kamen demnach seit Ende September um. Aserbaidschan und die Türkei weisen die Vorwürfe zurück.

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Es wäre nicht das erste Mal, dass die Türkei syrische Söldner einsetzt, um einen Verbündeten zu unterstützen. In den vergangenen Monaten hatte Ankara Hunderte syrische Kämpfer nach Libyen geschickt, um der Regierung in Gefechten gegen den Rebellengeneral Chalifa Haftar beizustehen.

Der Einsatz der Söldner als türkische Hilfstruppe vermeidet nicht nur Verluste der türkischen Armee. Die syrischen Kämpfer geben Ankara auch die Möglichkeit, sich von den Kampfeinsätzen zu distanzieren, falls das politisch nötig werden sollte. Ähnlich geht Russland mit dem Einsatz von Söldnern der Kreml-nahen Sicherheitsfirma Wagner in Syrien und Libyen vor.

Aserbaidschans Regierung wirft ihrerseits Armenien vor, Kämpfer aus dem Ausland einzusetzen. „Tausende“ armenisch-stämmige Kämpfer aus Syrien, Libanon, Russland, Georgien, Griechenland und den Vereinigten Arabischen Emiraten nähmen an den Gefechten teil, erklärte das Außenministerium in Baku.

Wie viel Einfluss besitzt Putin noch?

Der russische Präsident befindet sich in einer Konstellation, die er kaum ausbalancieren kann. Armenien ist ein Bündnispartner mit einem Vertrag über militärischen Beistand im Falle eines Angriffs, Aserbaidschan ist kein feindliches Land, und die Türkei ist ein strategischer, wenn auch immer wieder schwieriger Partner gegen den Westen in Syrien.

Bislang hat sich Moskau für seinen Alliierten Armenien kaum in die Bresche geworfen. Russische Analysten gehen davon aus, das Putin seinem Kollegen Nikol Paschinjan eine Lehre erteilen will. Der armenische Präsident wird misstrauisch beäugt, weil er mit einer sogenannten Farbenrevolution – durch den Druck des protestierenden Volkes – an die Macht gekommen ist.

Diese Form Machtwechsels begreift der Kreml als Staatsstreich gegen die legitime Staatsführung. Die Kämpfe gegen weit überlegene aserbaidschanische Streitkräfte zeigen nun, dass Armenien ohne Russlands Beistand am Ende wäre. Aus dem Westen kommt keine Hilfe für Eriwan.

Aserbaidschan wiederum kann sich der Zurückhaltung Moskaus relativ sicher sein. Das Land galt bislang als Beispiel dafür, dass Nachbarn Russlands einen Weg der Selbstständigkeit gehen dürfen. Baku zeige, dass – anders als von Georgien und der Ukraine behauptet – gute Nachbarschaft mit Putins Russland möglich sei.

Russlands Präsident Wladimir Putin muss die Kräfte im Kaukasus ausbalancieren.
Russlands Präsident Wladimir Putin muss die Kräfte im Kaukasus ausbalancieren.

© Alexei Druzhinin/Reuters

Die Balance zwischen den Feinden Armenien und Aserbaidschan funktionierte fast drei Jahrzehnte leidlich, solange beide Kaukasus-Staaten keine alternativen Bündnispartner hatten. Das hat sich mit der Parteinahme Erdogans für Alijew verändert.

Das bringt den Kreml in eine heikle Lage. In seine Partnerschaft mit dem erratischen Erdogan hat Putin inzwischen so viel investiert, dass er es nicht aufs Spiel setzen mag. Aber als Spieler im Kaukasus akzeptieren kann er die Türkei auch nicht – die Region ist aus Putins geostrategischer Sicht allein russische Einflusssphäre.

Um das Problem Berg-Karabach wieder in den Status eines „eingefroren Konflikts“ zurückzuführen, muss Putin seinen türkischen Amtskollegen drängen, sich zurückzuhalten. Und er muss Alijew ein Angebot offerieren, dass die Türkei als Ordnungsmacht in der Region unnötig macht. Schließlich muss der Kremlchef dem schwachen Armenien abverlangen, einst eroberte Gebiete rund um das eigentliche Berg-Karabach wieder an Aserbaidschan abzutreten.

Wie ist die Lage der Zivilisten?

Sie wird immer prekärer. Die Kämpfe sind inzwischen so heftig geworden, dass immer mehr Menschen sterben oder vertrieben werden. Über die Zahl der zivilen Opfer gibt es keine verlässlichen Angaben. Doch klar ist: Zehntausende versuchen sich vor den Gefechten und Bombardements in Sicherheit zu bringen.

Sie suchen Berichten zufolge oft in Kellern Schutz vor den Geschossen und harren dort schon seit Tagen aus. Immer wieder heulen die Alarmsirenen. Nur im Notfall gehen die Menschen auf die Straße, zum Beispiel um Lebensmittel zu besorgen.

Die Kriegsparteien werfen sich gegenseitig den Beschuss von Zivilisten und ziviler Einrichtungen vor. Die Angst vor Angriffen ist groß. Erst vor Kurzem sagte ein lokaler Behördenvertreter, die Hälfte der Bevölkerung Berg-Karabachs habe die Flucht ergriffen, das seien 70.000 bis 75.000 Einwohner, darunter fast 90 Prozent aller Frauen und Kinder.

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