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In Gaza steigt Rauch nach einem israelischen Luftangriff auf.

© dpa/ Hatem Moussa

Humanitäres Völkerrecht im Gazakrieg: Wer ist hier der Kriegsverbrecher?

Israel und die Hamas werfen sich gegenseitig den illegalen Beschuss von Wohngebieten und Zivilisten vor. Was ist im Krieg erlaubt – und was verboten?

Im jüngsten Gazakrieg hat der Beschuss von Zivilisten und von Wohngebieten erneut weltweit Empörung ausgelöst. Opfer sind vor allem Menschen, die an den Kämpfen nicht beteiligt sind, im Gazastreifen und in Israel.

Dies gilt für den aktuellen Konflikt ebenso wie für den letzten Gazakrieg vor sieben Jahren, 2014. Wieder greifen beide Seiten Wohnhäuser mit Raketen und anderen Waffen an und beschuldigen sich gegenseitig, dass sie damit Kriegsverbrechen begehen.

Was sagt das internationale Recht über legitime und verbotene militärische Zielen sowie über die Verantwortung für die Vermeidung ziviler Opfer?

Im Folgenden dokumentieren wir die damaligen Aussagen des Berliner Völkerrechtlers Georg Nolte, inzwischen Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag, und seines Bonner Kollegen Matthias Herdegen zum Gazakrieg 2014.

Was sagt das Völkerrecht über das Selbstverteidigungsrecht und wie definiert es Kriegsverbrechen?

Wer angegriffen wird, hat das Recht sich zu verteidigen. „Dieses Selbstverteidigungsrecht muss jedoch unter Beachtung des humanitären Völkerrechts ausgeübt werden“, erläutert Georg Nolte, Professor für Völkerrecht an der Humboldt-Universität. Die zentrale Grundlage sind die Genfer Konventionen. Kriegsverbrechen sind schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen, so wie sie auch in Artikel 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs umschrieben sind. Als Beispiele werden dort genannt: vorsätzliche Tötung, Folter, vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung und auf zivile Objekte, die nicht militärische Ziele sind.

Welche Sorgfaltspflichten haben kriegsführende Parteien, um die Zivilbevölkerung zu schonen?

Bei der Anwendung der völkerrechtlichen Grundsätze auf eine konkrete Kriegshandlung kommt es auf die genauen Umstände an, sagt Nolte, auf die militärtechnischen Möglichkeiten, die einer Partei zur Verfügung stehen, und auf die Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel. „Eine Partei muss militärische Ziele so genau wie möglich bekämpfen und wie dies mit ihren Waffen möglich ist.“ Israel hat andere militärtechnische Möglichkeiten als die Hamas.

Bundesaußenminister Heiko Maas und sein israelischer Kollege Gabi Ashkenazi in den Trümmern eines Gebäudes in Petah Tikva, das von Raketen aus dem Gazastreifen getroffen wurde.
Bundesaußenminister Heiko Maas und sein israelischer Kollege Gabi Ashkenazi in den Trümmern eines Gebäudes in Petah Tikva, das von Raketen aus dem Gazastreifen getroffen wurde.

© Nir Elias/REUTERS

Was daraus für die Frage folgt, was rechtlich im konkreten Fall erlaubt ist, muss für jeden einzelnen Schuss geprüft werden. In früheren Gazakriegen sind umstrittene Militäraktionen im Nachhinein international überprüft worden. In manchen Fällen wurden einzelne Kriegshandlungen als legal bewertet, in anderen nicht. Der Teufel steckt im Detail.

Wie ist der Beschuss israelischer Städte und Gemeinden mit Raketen zu bewerten?

Zum Kern des humanitären Völkerrechts gehört das Verbot des gezielten Angriffes der Zivilbevölkerung, erklärt Matthias Herdegen, Professor für Völkerrecht an der Universität Bonn. Verboten sind dabei auch „unterschiedslose Angriffe“, die sich nicht gegen ein bestimmtes militärisches Ziel richten oder richten können. Hierunter fällt der Raketenbeschuss von Städten und anderen Siedlungen, der allein die Zivilbevölkerung schädigen und in Schrecken versetzen soll.

Georg Nolte, Professor für Völkerrecht an der Humboldt-Universität Berlin und seit kurzem Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag.
Georg Nolte, Professor für Völkerrecht an der Humboldt-Universität Berlin und seit kurzem Richter am Internationalen Gerichtshof in Den Haag.

© picture alliance / dpa

Georg Nolte erläutert: Wer Raketen auf bewohntes Gebiet abschießt, ohne auf ein militärisches Objekt zu zielen, und dabei Zivilisten trifft, begeht ein Kriegsverbrechen.

Unter welchen Umständen können zivile Ziele als legitime militärische Ziele gelten?

Infrastruktur wie zum Beispiel Rollfelder und Brücken sowie Einrichtungen der Energieversorgung können ein militärisches Ziel darstellen, erklärt Matthias Herdegen, wenn sie aufgrund ihrer Zweckbestimmung oder Verwendung einen militärischen Nutzen haben und ihre Zerstörung einen klaren militärischen Vorteil verschafft. Anlagen der Trinkwasserversorgung oder sonstige für die Zivilbevölkerung lebensnotwendige Objekte dürfen grundsätzlich nicht angegriffen werden.

Sind „Kollateralschäden“ an Zivilisten bei der Bekämpfung militärischer Ziele hinzunehmen?

Es kommt auf die Verhältnismäßigkeit an, betont Matthias Herdegen. Verluste an Leib, Leben und Eigentum unter der Zivilbevölkerung lasse das humanitäre Völkerrecht zu, sofern dies „unbeabsichtigte Nebenfolge eines Angriffes auf ein militärisches Ziel“ ist und soweit nicht die Schäden in keinem Verhältnis zum militärischem Vorteil stehen. Dabei sei die Perspektive eines „vernünftigen Kommandeurs“ maßgeblich, der zu einer Abwägung militärischer und humanitärer Belange willens und fähig ist. Hier besteht ein beachtlicher Beurteilungsspielraum.

Matthias Herdegen, Direktor am Institut für Völkerrecht der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.
Matthias Herdegen, Direktor am Institut für Völkerrecht der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn.

© imago/Reiner Zensen

Nolte sagt: Wenn eine Partei ein Gebäude angreift, in dessen Keller zwei oder drei Kassam-Raketen gelagert werden, aber weiß, dass sich in dem Gebäude 200 Kinder aufhalten, ist das unverhältnismäßig. Andererseits ist der Umstand, dass sich einzelne Zivilisten in einem militärischen Objekt befinden, für sich genommen kein Grund, dass man es nicht beschießen darf.

Wie unterscheidet man zwischen militärischen und zivilen Zielen?

Mit Blick auf ein dicht besiedeltes Konfliktgebiet wie den Gazastreifen sagt Matthias Herdegen: Je mehr eine Konfliktpartei aus Wohngebieten und sonst aus der Deckung in der Zivilbevölkerung heraus operiert, desto eher wird das Völkerrecht gewisse „Kollateralschäden“ hinnehmen.

Auf der anderen Seite muss eine Konfliktpartei darauf achten, dass bei Planung und Durchführung militärischer Handlungen die Zivilbevölkerung möglichst geschont wird. Dazu gehört auch der Einsatz von möglichen Aufklärungsmöglichkeiten.

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Warnsignale (show of force) sind wichtige Maßnahmen zur Minimierung von Kollateralschäden in der Zivilbevölkerung. Der Einsatz von Drohnen mit der Möglichkeit sofortiger Rückkoppelung gewonnener Informationen an die Einsatzstelle kann insoweit eher dem Gebot eines schonenden Angriffes dienen als der Einsatz konventioneller Waffen. Insoweit führt die Verfügbarkeit bestimmter Hochtechnologien praktisch zu einer gesteigerten Verantwortung und damit zu gewissen Asymmetrien unter den Konfliktparteien.

Was sagt das Völkerrecht zu „menschlichen Schutzschilden“ und was kann die internationale Gemeinschaft tun?

Eine Kriegspartei darf keine Zivilisten zwingen, in der Nähe militärischer Ziele zu bleiben, sagt Georg Nolte. Wenn es aber zu solchen Situationen kommt, kommt es auf die Verhältnismäßigkeit an.

Die Pflicht zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts haben zuerst die Konfliktparteien. Aber auch die internationale Gemeinschaft hat eine Verantwortung.

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