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Der türkische Außenminister Mevlut Cavusoglu (r) und Bundesinnenminister Horst Seehofer (l, CDU) am Samstag in Ankara.

© Pool Turkish Foreign Ministry/dpa

Horst Seehofers Einsicht kommt zu spät: Europa hat in Syrien und in der Flüchtlingspolitik versagt

Deutschland und die EU wollen in der Flüchtlingspolitik ihre Ruhe haben. Doch mit dieser Haltung kommt die nächste Krise schneller als gedacht. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Susanne Güsten

Europa hat in Syrien und in der Flüchtlingspolitik versagt. Diese späte Einsicht prägte den Besuch von Bundesinnenminister Horst Seehofer in der Türkei. Das Jahr 2015 soll sich nicht wiederholen, lautete seine Botschaft. Viel Gestaltungsspielraum bleibt den Europäern allerdings nicht mehr – auch das hat Seehofers Visite gezeigt.

Nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges im Jahr 2011 tat Europa lange so, als spiele sich der Konflikt auf dem Mond ab. Es gab keine überzeugenden Initiativen zur Beendigung des Krieges und auch kein gemeinsames Konzept zur Unterstützung des Nato-Partners Türkei, der eine 900 Kilometer lange Landgrenze zu Syrien hat. Da auch die USA sich weitgehend heraushielten, schlug sich die Türkei ohne westlichen Beistand mit dem Problem der Flüchtlinge herum. Und deren Zahl wuchs stetig.

Dass Syrien doch nicht so weit von Europa entfernt ist, merkte die EU 2015 in der Flüchtlingskrise. Für ein aussichtsreiches politisches Engagement der Europäer in Syrien selbst war es da schon zu spät. Im September 2015 – als die Flüchtlingszüge über Griechenland und den Balkan nach Westeuropa auf hunderttausende Menschen pro Monat angeschwollen waren – begann der Militäreinsatz Russlands zugunsten von Machthaber Baschar al Assad.

Seither ist der Einfluss der Europäer und Amerikaner in Syrien noch weiter gesunken – genau wie ihre Möglichkeiten, auf den Partner Türkei einzuwirken, dessen Politik den Konflikt weiter verschärfte. Heute hört Ankara viel mehr auf Moskau als auf Brüssel oder Berlin, wenn es um Syrien geht.

Wachgerüttelt

Das eilig ausgehandelte Flüchtlingsabkommen von EU und Türkei von 2016 reduzierte zwar die Zahl der Neuankömmlinge drastisch. Der Erfolg führte jedoch zu einem weiteren schweren Fehler der Europäer: Die Politiker taten so, als sei mit dem Pakt und den sechs Milliarden Euro für Ankara alles erledigt.

Wieder fehlte eine vorausschauende Politik. Die Türkei, deren Pro-Kopf-Einkommen rund 20 Prozent des deutschen Wertes beträgt, versorgt heute 3,6 Millionen Flüchtlinge. Allein in Istanbul leben mehr Syrer, als ganz Deutschland aufgenommen hat. Die Kämpfe in der letzten Rebellenhochburg Idlib, die weitere drei Millionen Schutzsuchende in die Türkei treiben könnten, scheinen aber für Deutschland und Europa wieder weit weg zu sein. Seehofer ließ sich nach seinem Amtsantritt als Innenminister anderthalb Jahre Zeit mit seinem ersten Besuch in der Türkei.

Erst die wieder ansteigenden Flüchtlingszahlen auf den griechischen Ägäis-Inseln und die Ankündigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, notfalls die Tore für die Flüchtlinge nach Westen öffnen zu müssen, rüttelten die EU wach. Jetzt ist es ausgerechnet der frühere Hardliner Seehofer, der in Ankara unterstrich, dass Europa und die Türkei zusammenstehen müssten und dass vorsorgliches Handeln gefragt sei, um eine Wiederholung der Flüchtlingskrise zu vermeiden.

Viel mehr als Appelle an Gemeinsamkeiten und mehr Geld versprechen hatte der gewandelte Seehofer der Türkei allerdings nicht zu bieten. Den Europäern haben ihre Fehler viele politische Einflussmöglichkeiten genommen. Nun konfrontiert sie Erdogan mit dem Wunsch nach Rückendeckung für die Errichtung einer „Sicherheitszone“ im Norden Syriens. Sie soll eine Massen-Rückführung von Flüchtlingen aus der Türkei nach Syrien ermöglichen und vor allem die syrische Kurdenmiliz YPG aus dem Grenzgebiet zurückdrängen.

Seehofer lehnte das Vorhaben ab - aber was die Europäer stattdessen tun wollen, sagt er auch nicht. Denn im Grunde will Europa nur in Ruhe gelassen werden, auch wenn die vergangenen Jahre überdeutlich gezeigt haben, dass diese Ruhe nicht eintreten wird. Nur wenn Seehofers Besuch der Anfang eines – reichlich späten – Umdenkens in Europa gewesen sein sollte, hätte sich die Reise gelohnt.

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