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Der Künstler Roberto Yanez.

© dpa

Honeckers Enkel: Roberto Yanez ist zurück in Berlin

Er ist zurück in Berlin, der Stadt seiner Kindheit. Ausgesetzt, vor allem sich selber. Der Mann ist Erich Honeckers Enkel. Jetzt ist er 38 Jahre alt und Maler, Dichter, Musiker. Vielleicht konnte einer wie Roberto Yanez nur Surrealist werden, wenn er bei sich bleiben wollte.

Die alten Bilder. Der kleine Junge mit der Budjonny-Mütze neben seinem Großvater auf der Parkbank. Der rote Stern leuchtet ihm von der Stirn, kurz unter dem grünen Zipfel. Solche Mützen trugen Rotarmisten im russischen Bürgerkrieg. Der Junge lächelt, wie nur Kinder lächeln, die die ganze Welt noch vor sich haben.

Die ganze Welt. Sie wäre kleiner ohne mich, vielleicht wäre sie gar nicht möglich ohne mich, sagt dieses Lächeln. Der ältere Mann neben ihm auf der Bank lächelt auch. Er ist zufrieden mit der Welt, die er geschaffen hat. Und froh, dass der kleine Junge bei ihm ist, sein Lieblingsenkel. Roberto hat diese Anmut, die selbst bei Kindern selten ist, eine Anmut, vor der man verstummt.

Die alten Geschichten. Der Achtjährige mit dem funkferngesteuerten West-Hubschrauber, ein Geschenk der Großeltern. Der Hubschrauber flog nur einmal, die Flugbahn war nicht ideal, und niemand in Wandlitz konnte ihn reparieren. Das andere Westspielzeug hielt länger. Aber kein Vergleich zu der Winchester, die war echt, das Geschenk irgendeines Staatsmanns. Roberto nahm sie von der Wand und lief durch den Wald des Sperrbezirks, ein einsamer Indianer. Es ist nicht leicht, einen Indianer zu fangen und zu entwaffnen, erfuhr Erich Honeckers Personenschutz. Die Winchester bekam er nicht, aber dafür etwas später eine Lederjacke, die sollte sein Großvater eigentlich selber anziehen. Die Jacke war von Udo Lindenberg, der den Verdacht hatte, am Ende sind wir doch alle Rocker, auch der Generalsekretär des Zentralkomitees der SED.

Die Enttäuschung in seinem Gesicht

Innehalten. Das Gefühl, Roberto Yanez sähe beim Schreiben über die Schulter. Die Enttäuschung in seinem Gesicht. Es ist längst kein offenes Gesicht mehr, eher ein weltgewappnetes, wenn nicht ein weltverschlossenes. Heute ist er mindestens so misstrauisch wie einst sein Großvater. Hat er es nicht geahnt? Sie schreiben alle das Gleiche: Honeckers Enkel, schreiben sie. Aber das ist doch keine Identität. Auch die, von denen es heißt, sie schreiben was anderes, schreiben am Ende das Gleiche.

Seine Großmutter wusste solche Dinge schon immer. Das liegt an der Weltanschauung, Kommunisten wissen manches, auf das andere nie vorbereitet sind. Sie wissen es gleichsam schon vor der eigenen Geburt.

Roberto Yanez wohnt bei seiner Großmutter in Santiago de Chile, das heißt, zuletzt ist er ausgezogen, ein bisschen zumindest, er hat ein Atelier in Valparaiso. Margot Honecker hätte ihm genau sagen können, was passieren wird. Für „die da“ ist er Nachfahre eines Verbrechers und sonst gar nichts. Dichter? Maler? Musiker? Irrtum. Soll der lange Schatten des Alten ihn am Ende begraben?

Und sieh’ mich bloß nicht an wie Honeckers Enkel!, sagt Roberto Yanez’ Blick beim ersten Treffen. Ich bin viel größer als er! Und viel dicker bin ich auch. Ich habe nicht diesen wachsamen und zugleich weltscheuen Blick wie er. Ich blicke einfach geradeaus, ich schaue dir mitten ins Gesicht! Und du wirst in diesem Blick nichts lesen können, gar nichts!

Er war 15, als er mit der Familie floh

Der Mann, der Erich Honeckers Enkel ist, ist jetzt 38 Jahre alt. Als er mit seiner Familie aus der Noch-DDR floh, war er 15. Es ist das erste Mal, dass er das Land wieder betritt, in dem er aufwuchs, nach 23 Jahren das erste Mal. Wie war es, zurückzukommen?

Der Befragte schaut, als müsse man auf so entlegene Erkundigungen nicht reagieren. Später, als wir über den Ku’damm laufen, wird er auf eine vergleichbare Frage vergleichbar antworten, die Stimme leicht überkippend am Ende: „Normal!“ Normal?

Ein Blick schräg nach oben: Das Gesicht ist freundlich, sagen wir, normal freundlich, kein Vorsatz einer Brüskierung liegt darin. Honeckers Enkel trägt einen kartoffelbraunen grobgestrickten Pullover, von der gleichen Farbe wie seine Augen und die Haare, die er auf dem Kopf etwas schütterer und rundherum als Gesichtsbegrenzung trägt. Er raucht. Wenn er könnte, würde er zwei Zigaretten auf einmal rauchen. Dafür raucht er sie doppelt so schnell.

Wenn Roberto Yanez etwas zu sagen hat, schreibt er es auf

Roberto Yanez nimmt die Dinge ein wenig anders wahr. Er ist Dichter. Dichter sind nicht geschwätzig, Dichter können schweigen. Ja, sie schweigen meistens. Und Interviews sind die bevorzugte Kommunikationsform von Leuten, die sich eigentlich nichts zu sagen haben. Wenn Roberto Yanez etwas zu sagen hat, schreibt er es auf: In kühlen Nächten verdampft der Tag/ Über einen grünen See halte ich meine Seele hin/ Die Eingeweide der schwarzen Nacht/ Umringen das Grab der Melodien. Was mag seine Großmutter zu solchen Gedichten sagen?

Sozialistischer Realismus ist das nicht. Diese Zeilen enthalten alles, was die DDR nicht verstand, nie verstehen wollte. Spätbürgerliche Dekadenz, lautete das Vernichtungswort. Lebt Margot Honecker, Volksbildungsministerin der DDR, mit einem Mann zusammen, diesem Enkel-Mann, der alles verkörpert, wogegen sie einmal gekämpft hat? Und Atheist ist er auch nicht. Kein Surrealist weiß genau, woran er glaubt, aber an den Atheismus glaubt er schon mal nicht.

In der nächsten Woche erscheint im Insel-Verlag Roberto Yanez’ neuer Gedichtband. Er heißt „Frühlingsregen“. Die einführenden Sätze lauten: „,Frühlingsregen’ beschreibt das Erwachen. Diese Gedichte wurden in den Jahren verfasst, in denen ich wieder an die Oberfläche kam.“

Er kämpft für den Surrealismus in Chile

Wo ist einer, wenn er nicht an der Oberfläche ist? Und wie kam er dorthin? Schweigen. Er kämpft für den Surrealismus in Chile, er gehört einer Surrealistengruppe an. Der Surrealismus sei von vorgestern, sagen seine Verächter. Er ist von übermorgen, weiß Yanez. Junge, wir haben für etwas anderes gekämpft, sagt Margot Honecker manchmal. Antwortet er: Ich weiß, Großmutter! – manchmal?

Die Kämpfe der Alten machen ihn so müde. Am besten, man ist, selbst bei physischer Anwesenheit, gar nicht da. Roberto Yanez hat viel Zeit in diesem Nicht-Da verbracht. Ach, reden wir beim nächsten Mal drüber!, schlägt Honeckers Enkel vor. Auch habe er heute noch nichts gegessen. Selbst Surrealisten sind hungrig. Berlin im November. In Chile beginnt gerade der Sommer: Durchs Fenster kann man die Landstreicher sehen/ Es ist der Schlaf des Frühlings/ In dem die Tiere an uns denken. Roberto Yanez geht hinaus in den Regenabend, allein.

Nachdenken über Roberto Yanez. Der Filmemacher Thomas Grimm hat ihn zurück nach Berlin gebracht, in die Stadt seiner Kindheit; er hat ihn hier ausgesetzt, vor allem sich selber, den vergessenen, halb vergessenen und den unvergessenen Bildern, vier Wochen lang. Grimms Porträt läuft Sonntagabend im MDR, es heißt „Honeckers Enkel Roberto“, wie sonst?

Der stärkste Eindruck: „Er hatte keine Angst.“

Vielleicht konnte einer wie Roberto Yanez in der Tat nur Surrealist werden, wenn er bei sich bleiben wollte. Die Großeltern, gestern noch international anerkannte Führer eines Staates, wachten am nächsten Morgen als Verbrecher wieder auf. Am 30. November 1989 erhielten sie die Kündigung ihres Wandlitzer Hauses, in dem Roberto Yanez Kind gewesen war. Ja, sie hätten in eine Zwei-Zimmer-Erdgeschosswohnung am Berliner Bersarinplatz umziehen können, aber in den Gesichtern und an den Mauern stand schon „Keine Gnade für Erich Honecker!“

Das Volk hatte seinen krebskranken Großvater durchs Land gejagt. Welches Volk? Das gleiche, das am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz stand, das gleiche, das so wunderbar „wir“ sagen konnte?

Der Fünfzehnjährige besuchte Erich und Margot Honecker bei jenem Pfarrer in Lobetal, der das obdachlose Ehepaar im Januar 1990 schließlich aufnahm. Der stärkste Eindruck: „Er hatte keine Angst.“ Der Großvater war zu Tode erschüttert, aber Angst hatte er nicht. Es liegt Achtung in dieser Wahrnehmung, eine unhintergehbare Achtung.

Ich muss doppelt denken!, weiß Roberto Yanez

Wie das formulieren und alles andere dabei auch? Vielleicht schaffen das nur Surrealisten. Ich muss doppelt denken!, weiß Roberto Yanez. Er hat es schon so versucht: „Ich würde ihn als Mensch nicht richten. Ich würde ihn richten als das, was er am Ende nicht war.“ Ein logisch vielleicht nicht ganz zu rechtfertigender Satz, aber er geht direkt ins Hirn, ist im Zweifel klüger als ganze Tribunale. Zumal, wenn man die chilenische Volksweisheit mitdenkt, ein gutes Vorhaben sei der direkteste Weg in die Hölle.

Roberto Yanez spielte noch mit dem Sohn des Pfarrers Fußball, doch schon im März 1990 flohen seine Eltern aus der Noch-DDR. Er wollte da bleiben, die Familie eines Freundes hätte ihn aufgenommen. Aber er stieg schließlich doch in das Flugzeug nach Santiago de Chile. In das Land, aus dem sein Vater kommt. Ohne dessen blutigen Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Allende 1973 er wohl nie geboren worden wäre. Was für ein Gedanke, gleichursprünglich zu sein mit einem großen Morden.

Er singt er, als trüge er ganz Südamerika in seiner Stimme

Im Herbst 1971 betraten zwei junge Männer die Mensa der Technischen Universität Dresden und setzten sich an den Tisch eines auffällig schönen Mädchens. Es war Sonja Honecker, der Liedermacher Bernd Rump und sein chilenischer Freund Leonardo Yanez verliebten sich beide in die Studentin der Informationstechnik. Sie nahm zuerst den Liedermacher, dann Yanez. Als der Pinochet-Putsch beginnt, ist Leonardo Yanez wieder in seiner Heimat. Nur der Auslandsgeheimdienst der DDR kann ihn aus dem Land herausholen.

Tausende Chilenen sterben in den ersten Monaten der Militärdiktatur. Für Tausende Chilenen wird die DDR zur Zuflucht. Tausende Chilenen kommen 1994 zur Trauerfeier Honeckers in Santiago. Wer ist ein Diktator? Sein Großvater? Pinochet? Roberto Yanez hält es nicht aus. Er läuft weg. Da ist er längst ein Hippie, hat lange Haare und Streit mit seinen Eltern. Die Mitschüler schreiben über ihn in der Klassenzeitung: „Idealistischer Dichter, in der Zeitmaschine hier angekommen.“

Sein Lieblingsautor ist Friedrich Nietzsche

Berlin, Fasanenstraße 28, Galerie Kornfeld. Der Galerist und Roberto Yanez hängen die letzten Bilder. Am 12. November wird seine Ausstellung eröffnet, die erste. Er trägt wieder den gleichen kartoffelbraunen grobgestrickten Pullover wie beim letzten Mal. Roberto Yanez würde die fleischfressenden Quallen vor den spitzen hellen Bergen, die so preußischblau-schwarze Schatten werfen, unbedingt in den ersten Raum hängen, aber der Galerist ist dagegen. Yanez malt auch Urfische, die noch nicht entdeckt wurden und nennt deren Zwiesprache „Der Mittelpunkt des Wortes“. Seine Bilder sind wie seine Gedichte, genauso ungebärdig, Wirklichkeitsdurchbrüche, gewalttätig und zart zugleich. Auch andere müssen diese Fische schon gesehen haben, die er sah, sein Unterbewusstsein kann unmöglich ihm allein gehören. Er glaubt an den Kommunismus des Unterbewusstseins.

Sein Lieblingsautor ist Friedrich Nietzsche, der schlimmste von allen. Die SED hielt ihn für den Philosophen Hitlers. Die frühere Volksbildungsministerin der DDR versteht die Gedichte ihres Enkels nicht, vor den Bildern bleibt sie manchmal stehen. Die Farben sind schön.

„Man kann viele Jahre verlieren als Surrealist“, sagt Yanez plötzlich vor einem Bild, auf dem Frühlingsbäume schmerzhaft blühen. Durch den ganzen Kontinent ist er gereist, hat in einer Hippiekommune am Rande der Wüste gelebt. Nach einer Überdosis LSD kamen der Zusammenbruch und die Therapeuten. Zehn Jahre lang. Zehn Jahre zu oft unter der Oberfläche. Aber auftauchen, immer weiter auftauchen, die Wände des Frühlings durchbrechen.

Surrealisten denken nie vorsätzlich

Er hat ein Buch und eine Ausstellung in der Stadt, in der er groß wurde. Nur den Musiker lernt sie nicht kennen. Dabei singt er, als trüge er ganz Südamerika in seiner Stimme. Jahrelang hat er in Bussen und U-Bahnen gespielt. Das ist kein Leben, sagte seine Familie. Das ist mein Leben!, sagte er. Meine Beine sind weit weg von mir/ Es fehlt ein Ziegel in der ewigen Wand/ Kinder spielen an der Grenze meiner Schmerzen.

Natürlich ist er in dem Haus in der Leipziger Straße gewesen, in dem er wohnte, 12. Stock, drei Zimmer, Blick auf den Fernsehturm und in den Westen. Er hat sogar geklingelt. Aber es hat niemand geöffnet. Auch in Wandlitz war er und in Großvaters Jagdhaus.

Surrealisten denken nie vorsätzlich, es denkt in ihnen. Großmutter und Enkel. Sie lebten und sie leben miteinander. Sie sind sich die jeweils Nächsten. Und die Fernsten zugleich. Und doch die Nächsten. Mit dieser Dialektik – vielleicht ist es die wahrhaft menschliche – hat der Kommunismus nie gerechnet. Und es gibt einen Maßstab für die Kunst, von dem er nichts wusste: sie durchlitten zu haben.

Sind Sie ein zufriedener Mensch?

Doch, ich glaube schon, sagt er beim Verlassen der Galerie, in jenem betont harmlosen Tonfall, der ihn verbergen soll. Der Surrealist läuft über den Ku’damm. Er schaut den Menschen ins Gesicht. Er hat Hochachtung vor allen, denen er begegnet. Dieses Wetter! Und hier nicht weg können. Das ist das wahre Exil. In Berlin hat Roberto Yanez erkannt, dass Chile seine Heimat ist.

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