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Blumen und Kerzen wurden in den Tagen nach dem Anschlag vom 9. Oktober 2019 vor der Synagoge in Halle niedergelegt.

© Hendrik Schmidt/dpa

Holocaust-Überlebende über den Rechtsruck in Deutschland: „Der Anschlag in Halle weckt Erinnerungen“

Nach dem Anschlag in Halle fragt sich Roman Haller, ob er Koffer packen muss. Martha Raviv fordert ein Ende der Naivität. Sally Perel hofft auf die Jugend.

Ihm war klar, wenn er die Wahrheit sagen würde, würden sie ihn erschießen. 1941 nehmen Wehrmachtssoldaten den damals 16-jährigen Salomon fest. Er gibt sich als „Volksdeutscher“ aus, nennt sich Josef Perjell. Die Soldaten glauben ihm, nehmen ihn als Dolmetscher in ihre Truppe. So erinnert sich Sally Perel, 94 Jahre alt, in Tel Aviv, wo er heute wohnt.

Der Kommandant adoptiert ihn später als den Sohn, den er sich immer gewünscht hatte und schickt ihn auf ein Internat der Hitlerjugend in Braunschweig. Dort wird das jüdische Kind Perel zum Hitlerjungen Jupp. Vier Jahre lang jongliert er zwei Identitäten, spielt seinen Feinden vor, einer von ihnen zu sein und überlebt.

Aus seinen Erfahrungen damals ist für ihn heute eine Aufgabe geworden. Er will sprechen. Über das, was geschehen ist. Und – wichtiger noch – über das, was geschieht.

SALLY PEREL, 94, ISRAEL

Sally Perel.
Sally Perel.

© Felix Wellisch

„Der Anschlag in Halle hat mich sofort in die 30er Jahre zurückversetzt, als ich noch als Kind in Deutschland lebte und Zeuge ähnlicher Verbrechen wurde. Damals hieß es, es sind nur einzelne Dummköpfe, die kommen vom Rand der Gesellschaft, man kann damit irgendwie leben. Aber dann rückte der Rand in die Mitte. In der Weimarer Republik gab es auch alle paar Monate Wahlen und viele nahmen nicht ernst, dass die Nationalsozialisten von Mal zu Mal stärker wurden. Als Hitler an die Macht kam, hieß es: Der Verrückte wird nicht lange regieren. Am Ende waren es zwölf Jahre und Europa lag in Trümmern. Dass die AfD immer stärker wird, da frage ich mich: Deutschland, wohin? Da sehe ich Parallelen und man muss alles tun, damit es nur Symptome bleiben. Ich sehe mich da wie ein Wächter vor dem Tor. Ich habe das schon mal erlebt, ich will nicht noch mal in so eine Falle gehen.

Aber trotz des Anschlags in Halle glaube ich fest, dass das demokratische Deutschland die Oberhand behält und nicht wieder Opfer eines rassistischen Systems wird.“

Der Hitlerjunge Jupp sei noch immer ein Teil von ihm, sagt Perel. Wie er damals als Jugendlicher mit den anderen Hitlerjungen in der Schule saß, sei die Ideologie so überzeugend gewesen, dass er irgendwann selbst begann, daran zu glauben – sein eigener Feind wurde. Das habe ihn nie ganz losgelassen. Manchmal, wenn er Bilder von damals sehe, bekomme Jupp in ihm ein nostalgisches Gefühl. Dann müsse erst Sally kommen und sagen: Nein, da mache ich nicht mit.

40 Jahre erzählte er seine Geschichte nicht

„Hoffnung habe ich, wenn ich die Jugendlichen in Deutschland treffe. Die haben heute keine Kriege mehr im Kopf und keinen Militarismus. Damals, als ich in der Hitlerjugend war, war der größte Tag die Einberufung und wenn man seine Uniform-Stiefel bekam. Die Jugend in Deutschland denkt nicht an so etwas. Und seit September tragen zwei Schulen in Deutschland meinen Namen, den eines Juden und Holocaust-Überlebenden. Das ist ja auch ein kleiner Beweis, dass Deutschland heute anders ist.“

Bis Sally Perel über seine Geschichte sprach, dauerte es 40 Jahre. Er habe verdrängen müssen, sagt er. Platz schaffen, für ein neues Leben. Erst als er sich in den 80er Jahren einer Herzoperation unterziehen musste, beschloss Perel, dass er seine Geschichte nicht mit ins Grab nehmen will. Das Buch wurde ein Erfolg, Artur Brauner verfilmte es unter dem Titel „Hitlerjunge Salomon“. Bei einem Vortrag im Messuah-Institut, einem Bildungszentrum im Norden Israels, spricht Perel nicht explizit über Politik, macht aber Andeutungen, was man aus dem Holocaust für heute lernen sollte. Die Mädchen und Jungen, die auf den Bänken sitzen und Perel zuhören, stehen kurz vor ihrem Schulabschluss. Sie fahren bald auf Klassenfahrt in die ehemaligen Konzentrationslager nach Polen, um zu lernen, warum es heute den Staat Israel gibt.

"Ich wünsche mir Frieden"

„Meine Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass ihre Eindrücke dort sie zu Friedenskämpfern machen und nicht zu Nationalisten. Diese Jugendlichen müssen nach der Schule für zwei bis drei Jahre zur Armee. Ich möchte nicht, dass die Erinnerung an den Holocaust missbraucht wird, um ein gegen Palästinenser gewandtes Nationalgefühl aufzubauen.

Der Nationalismus wird auch in Israel stärker, von einer friedlichen Lösung redet hier kaum noch jemand. Ich bin nach wie vor für eine Zwei-Staaten-Lösung, für einen Rückzug aus den besetzten palästinensischen Gebieten und für Ost-Jerusalem als die Hauptstadt eines Staates Palästina. Aber ich weiß, dass diese Lösung heute utopisch ist. Benjamin Netanjahu hat im Wahlkampf sogar versprochen, Teile des Westjordanlands zu annektieren. Ich denke, das wäre eine Katastrophe, viele hier jedoch unterstützen diesen Kurs. Ich aber wünsche mir Frieden. Ich hoffe, ich erlebe das noch mit meinen 94 Jahren.“

MARTHA RAVIV, 83, ISRAEL

Martha Raviv.
Martha Raviv.

© Felix Wellisch

1936 wurde Martha Raviv in Wien geboren. Ihr Vater wurde zum ersten Mal verhaftet, als sie zwei Jahre alt war. Auf seiner Todesurkunde aus Buchenwald steht, er sei an einem Herzinfarkt gestorben. Raviv weiß heute, dass er 1942 in der Euthanasie-Anstalt Bernburg ermordet wurde. Im selben Jahr wurden auch Martha und ihre Mutter festgenommen und wieder freigelassen, ein Jahr später wurden sie endgültig verhaftet. Martha und ihre Mutter sahen danach zehn Gefängnisse, darunter auch Bergen-Belsen bei Hannover, bis sie schließlich ins KZ Vittel in Frankreich gebracht und dort im Oktober 1944 von den Alliierten befreit wurden.

„Ich bin heute Israeli und ich möchte nicht, dass mich irgendwer weg oder gar zurück nach Europa schicken kann, schon gar nicht mit dem wachsenden Antisemitismus dort. Ich will Frieden hier in Israel. So lange ich hier lebe, sollen die Palästinenser auch hier leben können. Aber nicht mit einem arabischen Staat, für den jüdische Siedlungen geräumt werden müssen. Ich kann nicht mit Leuten zusammenleben, die sagen: Die Juden sollen zurück ins Meer. Das ist naiv. Ja, ich bin gegen die neuen Nazis in Deutschland und Europa, gegen die Rassisten, mit ganzem Herzen. Ich werde alles tun, damit sich Mitgefühl durchsetzt mit Menschen, die wegen ihrer Rasse oder Religion verfolgt werden. Wenn der Holocaust uns eins gelehrt hat, dann dass wir die Wahl haben, bessere Menschen zu sein. Aber wenn es um die Frage Israel-Palästina geht, da weiß ich wirklich nicht, wie man dieses Problem lösen könnte. Deswegen ist meine Idee vom Frieden eine Utopie.“

Erinnerung an die Kindheit

Martha Raviv hat sich nach ihrer Befreiung 1945 ein neues Leben in Israel aufgebaut, hinter ihr liegt eine Karriere als Anwältin und Notarin. Ihr Haus, von einem ihrer drei Kinder geplant und gebaut, liegt in der Stadt Ramat HaSharon nördlich von Tel Aviv. Im Pool auf der Terrasse glitzert das Wasser, durch die großen Glastüren sieht man auf niedrige rote Ziegeldächer zwischen Dattelpalmen.

„Der Anschlag in Halle weckt bei mir Erinnerungen an die Zeit, als ich selbst mit meiner Mutter dort eingesperrt war. Von allen Gefängnissen und KZs in denen wir gefangen gehalten wurden, war Halle das schlimmste. Wir waren mit 25 Personen in einer Zelle eingesperrt, darunter Schwerverbrecher, die uns Juden das bisschen Kleidung, das wir noch hatten, wegnahmen, um sich selbst gegen die Kälte zu schützen. Es war fast unmöglich, sich hinzusetzen, ans Hinlegen gar nicht zu denken.

Als wir Juden von dort gegen deutsche Kriegsgefangene ausgetauscht werden sollten, wollte mich einer der Wächter, entgegen seiner Befehle, von meiner Mutter trennen und stattdessen in eine Zelle mit Sinti-Kindern stecken, die für die Versuche von Dr. Mengele missbraucht wurden. Ich sehe wieder das blutige Gesicht meiner Mutter vor mir. Sie hat mich nicht losgelassen. Dafür hat der Wärter sie mit einem Schlagstock verprügelt. Nur ihrem Mut verdanke ich es, dass ich, anders als viele Opfer von Mengeles Experimenten, heute drei Kinder und elf Enkel habe.

Der Anschlag ist eine Warnung

Für Juden in Deutschland ist der Anschlag eine Warnung, allerdings hat er mein Bild von Deutschland kaum geändert. Schon vorher konnte man sich in Deutschland nicht problemlos mit jüdischen Symbolen öffentlich zeigen.“

Seit 20 Jahren schiebt die 83-Jährige immer wieder Verfahren gegen Österreich und Deutschland an, bei denen es um die Frage der Wiedergutmachung für die Opfer des Holocaust geht. Das Jahr 2019 brachte Raviv einen Erfolg. Die österreichische Regierung erklärte sich bereit, Nachfahren von österreichischen Holocaust-Überlebenden die österreichische Staatsbürgerschaft zusätzlich zu ihrer eigenen zuzugestehen, etwas, wofür Martha Raviv lange gekämpft hatte.

„Mir geht es dabei nicht um mich persönlich, mir geht es um Gerechtigkeit. Es gibt viele Menschen, die nicht das Glück hatten, das ich hatte. Die nach den Grausamkeiten den Neuanfang nicht geschafft haben und heute bedürftig sind. Mich leitet der Gedanke, dass es doch nicht sein kann, dass es hier in Israel Menschen gibt, die wegen der Gräuel, die sie durchleben mussten, heute in Armut leben. Ich vermeide auch das Wort Wiedergutmachung. Ich nenne das Restitution. Auf Hebräisch sagt man: Blut lässt sich nicht mit Geld bezahlen.“

ROMAN HALLER, 75, DEUTSCHLAND

Roman Haller.
Roman Haller.

© Felix Wellisch

Als Roman Haller im Mai 1944 in einem Wald bei Tarnopol in der Ukraine geboren wurde, stand sein Leben auf dem Spiel, so haben es ihm seine Eltern später erzählt. Haller war für die zwölf Holocaust-Überlebenden, die sich mit Unterstützung einer Polin und eines deutschen Wehrmachtsmajors in dem Wald versteckten, eine Gefahr. Ein Neugeborener würde schreien, das hätte die Gruppe verraten können. Das Kind musste getötet werden, am besten erstickt, habe man sich überlegt. Doch als Haller auf die Welt kam, hatte die Gruppe eine Entscheidung getroffen: Entweder das Kind würde leben oder sie sollten alle sterben. So fand die Rote Armee, die den Wald bald darauf erreichte, dreizehn statt zwölf Überlebende. Heute lebt Roman Haller in München und ist Direktor der Jewish Claims Conference in Deutschland, einer Organisation, die sich um die Entschädigung von Holocaustopfern kümmert.

„Die Vorfälle von Halle haben bei vielen Entsetzen hervorgerufen, sie überraschen mich aber nicht. Der Antisemitismus in Deutschland wird stärker. Da ist einmal die AfD, eine extrem rechte Partei von der wir hören, dass die Nazizeit ein ,Vogelschiss der Geschichte’ war und das Holocaust-Mahnmal in Berlin ein ,Schandfleck’. Dazu kommt der Antisemitismus der Linken. Die sagen zwar nicht ,Du Saujude’, sondern ,Man wird doch wohl noch Israel kritisieren dürfen’, schüren aber Hass auf Juden durch den Umweg über den jüdischen Staat. Und dann haben wir muslimischen Antisemitismus. Ich sehe darin eine gefährliche Gemengelage. Die oft einseitige Berichterstattung über Israel mit doppelten Standards, die Verrohung der Worte und unzählige Hasstiraden im Internet haben das Ihre zu der Tat in Halle beigetragen.

Parallelen zu 1933

Es ist heute sicher nicht wie 1933, aber es gibt Parallelen. In Frankfurt bin ich an einem jüdischen Geschäft vorbeigegangen, bei dem jemand einen Aufkleber mit dem Text ,Boycott Israel – BDS’ an die Scheibe geklebt hatte. Da muss ich nicht erklären, welche Assoziationen da bei mir auftauchen. Ich wurde neulich gefragt, wo ist der Punkt, wo du sagst: Das war es, ich packe meine Koffer. Ich habe gesagt: In dem Moment, wenn ich mich von den Behörden, der Justiz und der Polizei nicht mehr als Jude geschützt fühle. Wir sind noch nicht so weit, aber wir gehen in die Richtung. Besonders wachsam zu sein, ist nicht nur die Aufgabe von uns Juden, sondern geht jeden Bürger in Deutschland an, dem die Aufrechterhaltung eines demokratischen Rechtsstaates am Herzen liegt.

Ich habe mein ganzes Leben lang selbst ehrenamtlich in verschiedenen Organisationen geholfen, auch wegen meines eigenen Schicksals. Ich habe mein Leben Menschen zu verdanken, die aus Mitmenschlichkeit ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt haben. Das hat mich geprägt.“

Nach 1945 will die Familie Haller, ursprünglich aus Polen, nach Amerika auswandern. Dafür gehen sie zunächst in die amerikanische Zone nach Föhrenwald bei München. In einem Camp für Holocaust-Überlebende beantragen sie ein Visum, doch der Prozess dauert. In der Zwischenzeit findet Vater Haller eine Arbeit und eine kleine Wohnung in München, doch die Hallers wollen immer noch, wie fast alle Überlebenden, nicht in Deutschland bleiben. Als allerdings das Visum nach zwei Jahren da ist, zögert die Familie. Die Eltern lassen ihrem Sohn eine Reiseunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen attestieren, um die Entscheidung zu vertagen. Jaja, wir wollen ja weg, hätten seine Eltern immer gesagt, aber noch nicht jetzt. Roman Haller denkt, das war die Angst vor dem Neuen und davor, wieder von vorne anzufangen. Erst Hallers Kinder wagen diesen Schritt, sie wohnen heute in Großbritannien und den USA.

Weltweiter Trend nach rechts

„Wir erleben einen weltweiten Trend nach rechts. Wir müssen damit rechnen, dass sich die Demokratie wandelt. Da kommen Personen an die Macht, die ich zwar nicht als Diktatoren bezeichnen würde, die aber mit der Demokratie, wie ich sie gerne hätte, nicht viel zu tun haben. In Europa muss man gar nicht erst nach Ungarn oder Polen schauen, da reicht es, nach Österreich oder Deutschland zu gehen.

Ich hatte das große Glück in einer langen Periode des Friedens in Europa zu leben. Dieser Frieden war für mich noch vor wenigen Jahren so selbstverständlich, ich konnte mir gar nicht vorstellen in einer anderen Zeit zu leben. Ich hätte meinen Kopf dafür verwettet, dass diese Spannungen, wie wir sie heute sehen, so nicht mehr möglich sind. Da hat sich etwas gewandelt, wo ich mir für die Zukunft nicht mehr so sicher bin.“

"Israel ist für mich ein Sicherheitshafen"

Roman Hallers Eltern machten sich, nachdem sie in München angekommen waren, auf die Suche nach dem Deutschen und der Polin, die sie gerettet hatten. Sie fanden Major Eduard Rügemer in Nürnberg und luden ihn nach München ein. Rügemer wurde ein häufiger Besucher bei Hallers, übernachtete oft bei ihnen, spielte mit Roman oder ging mit ihm spazieren. Roman Haller erinnert sich, dass Rügemer für ihn zum Opa wurde, den er nicht mehr hatte. Heute sagt er: „Ich habe ihn geliebt.“ Eduard Rügemer und die Polin Irene Gut wurden später beide in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.

„Israel ist für mich ein Sicherheitshafen. Das Land ist zwiegespalten, das haben die letzten Parlamentswahlen im September gezeigt. Das wundert mich aber nicht. Es ist eine Folge des endlosen kriegsähnlichen Zustandes dort. Die einen wollen in Frieden leben, haben genug vom Krieg. Und die anderen sagen, den Frieden können wir nur erreichen, wenn Israel stark ist. Ich bin ein Mensch des Ausgleichs. Ich würde mir wünschen, dass es zu einer großen Koalition kommt in Israel, die die Bedürfnisse nach Frieden und nach Sicherheit miteinander vereinbaren kann. Denn, trotz der Raketen und des ewigen Konflikts dort, ist Israel für mich ein sicherer Hafen, eine Zufluchtsstätte, die mir immer offenbleibt. Das ist ein Sicherheitsgefühl, das ich habe und das ich auch brauche.“

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