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Während der Rede des Bundespräsidenten in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem.

© Abir Sultan/Pool/AFP

Holocaust-Gedenken: Gegen Vergessen, gegen Lügen

Wenn Hass und Hetze sich ausbreiten, muss man die Gefahren benennen. Und der Geschichtsverfälschung begegnen. Weil sie Versöhnung verhindern. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Die Einsicht ist beschämend. Aber auch ehrlich und notwendig. „Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt“, bekannte Frank-Walter Steinmeier in Yad Vashem. „Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten.“

Ein Dreivierteljahrhundert nach dem industriellen Massenmord an Millionen Juden, dem größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, begangen von Deutschen, werden in Deutschland Synagogen angegriffen und jüdische Kinder bespuckt, müssen Juden fragen, ob sie in diesem Land sicher leben können. Das ist ein Skandal. Die Vorgänge wecken Zweifel, ob dieser Anspruch überhaupt einzulösen ist: für immer aus der Geschichte zu lernen.

Zwei Feinde der Erinnerung

Man kann sich jedoch bemühen. Und die Gefahren benennen, die Feinde des Erinnerns sind: das Vergessen und Verdrängen. Sowie die absichtsvolle Verfälschung der Geschichte samt ihrer Instrumentalisierung für politische Ziele. Beides geschieht, in Deutschland und Europa. Gegen das eine können die Deutschen etwas tun: das Vergessen und die Geschichtslügen in ihrem eigenen Land.

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Bei den Geschichtsverfälschungen durch andere wird es heikel angesichts der deutschen Schuld. Deutsche können sich schwerlich zu Moralaposteln aufschwingen, die andere mahnen, wie diese an die Geschichte sowie ihre eigene Verwicklung erinnern sollen. Es war klug, dass der Bundespräsident sich nicht zum Gedenkstreit zwischen den Präsidenten Russlands und Polens, Wladimir Putin und Andrzej Duda, geäußert hat.

Europa ist berufener als Deutschland, Putin entgegen zu treten

Das muss nicht heißen, dass Putins Geschichtslügen unwidersprochen bleiben. Aber andere sind eher zum Einspruch berufen. Das Europäische Parlament hat Putins dreisten Versuch, Polen eine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg zu geben und Stalin von der Mittäterschaft reinzuwaschen, mit klaren Worten zurückgewiesen. Das Dritte Reich und die Sowjetunion waren die treibenden Kräfte. Sie teilten die zwischen ihnen liegenden Staaten im Hitler-Stalin-Pakt untereinander auf. Duda hat auf einer Anzeigenseite einer deutschen Zeitung in etwa die Rede aufgeschrieben, die er in Yad Vashem halten wollte, aber nicht durfte.

Putins Versuch, die Geschichte umzuschreiben, ist nicht nur eine Herausforderung für Historiker. Er ist brandgefährlich, weil er Zwietracht sät – ja, Verachtung für Polen, Ukrainer, Balten, die er zu Hitlers Kollaborateuren stempeln will. Er zielt auf das Gegenteil des Sprichworts „Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung“.

Das gemeinsame Gedenken – jetzt in Yad Vashem, nächsten Montag, dem Holocaust-Gedenktag, in Auschwitz, im Mai an das Kriegsende – soll mahnen. Damit es nie wieder geschieht. Und Versöhnung möglich wird. Dafür muss die Erinnerung wahrhaftig sein, also die Vielfalt der Verwicklungen anerkennen.

Die Rote Armee hat Auschwitz befreit, viele Polen haben Juden gerettet

Die Rote Armee hat Auschwitz befreit. Sie hat auch geholfen, Europa und die Deutschen von den Nazis zu befreien. Die Anerkennung dafür sollte niemand verweigern. Zu Beginn des Kriegs aber war Stalin Hitlers Komplize.

Es gab Antisemitismus in Polen, Kollaboration bei Pogromen. Aber es waren Polen wie Jan Karski und Witold Pilecki, die unter Lebensgefahr Informationen über den Völkermord nach draußen schmuggelten. In der Liste der „Gerechten unter den Völkern“, die Juden retteten, bilden Polen die größte Gruppe. Das Vergessen und die Geschichtslügen sind Feinde der Erinnerung. Und damit der Versöhnung.

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