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Hoheneck: Das vergessene Verlies

Synonyme für DDR-Unrecht wurden: Bautzen und Hohenschönhausen. Hoheneck nicht. Es war und ist ein geheimer Ort. Doch in dem Gefängnis waren tausende Frauen weggesperrt. Viele von ihnen nur, weil sie zu ihrem Mann in den Westen wollten.

Sie hat im Dunkelarrest im Keller gestanden, allein, umgeben von Finsternis, und dann drang plötzlich Wasser in die Zelle ein, durch kleine Löcher, es stieg und stieg, und irgendwann floss es wieder ab. Dann kam es wieder und ging und kam. Sie konnte kein System erkennen, hatte in der Dunkelheit jedes Zeitgefühl verloren. Irgendwann begriff sie, warum das Wasser abfloss und wiederkam. Es wurde ausgetauscht. Immer wenn sie es mit ihrer eigenen Körpertemperatur etwas erwärmt hatte, wurde eiskaltes Wasser nachgefüllt. Bis sie völlig unterkühlt war.

Mehr als 50 Jahre ist das jetzt her, doch die feuchte Kälte steckt noch heute in dem Gemäuer. Wie haben es die Frauen hier jahrelang ausgehalten? Wie wird man nach so einer Erfahrung im Leben noch einmal warm?

Anita Goßler war von 1953 bis 1956 an diesem Ort inhaftiert: im DDR-Frauengefängnis Hoheneck in Stollberg im Erzgebirge. Mehr als tausend Frauen saßen hier ein, verurteilt durch das sowjetische Militärtribunal. 1953 gab es eine Hungerrevolte, die aber nichts an den Haftbedingungen verbesserte. Im Gegenteil. Es kam das Jahr 1961, in dem Walter Ulbricht, damals Staats- und Parteichef, im Großen Festsaal des Hauses der Ministerien in Ost-Berlin seinen berühmten Satz sagte: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Das war am 15. Juni, morgen vor 50 Jahren, und bekanntlich kam es anders. Eine Mauer wurde errichtet, und in den Haftanstalten wurde es nun noch enger, denn ab da trafen die „politischen Gefangenen“ ein, Republikflüchtlinge, hunderte, tausende, die es hinter nunmehr doppelten Mauern festzuhalten galt. Hoheneck war zeitweilig mit 1600 Insassinnen hoffnungslos überbelegt.

Viele der Frauen, die damals nach Stollberg kamen, hatten zuvor noch nie von dem Gefängnis gehört. Viele Menschen kennen es auch heute noch nicht. Hoheneck ist ein geheimer Ort geblieben. Vor ein paar Wochen änderte sich das für einen Tag. Da waren Kameras und Mikrofone auf Hoheneck gerichtet, da war der Bundespräsident zu Besuch, marschierte mit Sicherheitsmännern und Journalisten durch die Kellerverliese, sah Dunkelzellen, Gitter und niedrige Gänge, sah im Vorbeigehen einen Ort, in dem andere Jahre verbrachten, einen Ort der Einsamkeit und der Verzweiflung.

Anita Goßler führte den Bundespräsidenten in jene Zelle im Keller, die Wasserzelle genannt wird und deren Existenz die Gefängnisleitung immer geleugnet hat, und erzählte ihm leise von früher, eine zierliche grauhaarige Dame ist sie, der Bundespräsident neigte sich ihr zu. Es war ein fast unwahrscheinlicher Moment der Stille, der Intimität. Er sei außerordentlich betroffen, sagte Christian Wulff später. Für ihn wie für die meisten Menschen sind Bautzen und Hohenschönhausen Synonyme für DDR-Unrecht, nicht Hoheneck.

Zu Wulffs Besuchsprogramm gehörte auch eine Filmvorführung im Kinosaal, in dem den Insassinnen einst Propagandafilme über Ernst Thälmann gezeigt wurden. Der habe es unter den Nazis im Gefängnis besser gehabt als sie hier in Hoheneck, haben sie damals gedacht. Christian Wulff bekam den gerade fertiggestellten Dokumentarfilm „Jeder Tag zählt wie ein Jahr“ von Kristin Derfler und Dietmar Klein gezeigt. Auch in dem Film sieht man Anita Goßler, die von Dunkelhaft, von Kälte und Angst spricht. Eine Denunziation hat sie damals ins Gefängnis gebracht, heißt es.

„Burg“ nannten die Frauen ihr Gefängnis, das einst Schloss war und im 19. Jahrhundert „Weiberzuchthaus“. Weil es hoch über Stollberg thront. Ein finsterer Kasten aus rotem Ziegel, im Dunklen angestrahlt, lastend wie ein Albdruck auf der Stadt. Noch wohnen dort ehemalige Wärter. Was wusste man in Stollberg vom Gefängnis dort oben?

Eine Blaskapelle habe früher zu Silvester am Fuße der Mauern aufgespielt, den eingesperrten Frauen zum Trost, erzählen sie. Und der Superintendent habe 1988 in der Silvesterpredigt das Gefängnis öffentlich zum Thema gemacht und gefragt, was man eigentlich wisse von den Zuständen in der Burg, und was man besser nicht wissen wolle.

Viel davon kann man bis heute besichtigen: schäbige, enge Schlafräume, in denen bis zu 60 Frauen unterkamen, manche von ihnen als „Bodenschläferinnen“, die sich jede Nacht eine Matratze auf den Stein legen mussten. Eine Nasszelle mit drei Waschbecken und zwei Toiletten, in der Tür ein Guckloch, und man wusste nie, wer einen beobachtet, Frau oder Mann. Im Keller die Dunkelzellen. Bis zu 48 Frauen waren hier tagelang eingesperrt, mit Kittel, Pantoffeln und einer dünnen Decke. Hier stand das Leben still. Zum Gedenken liegt in jeder dieser Zellen heute eine gelbe Rose. Unterm Dach waren die Arbeitsräume, in denen in Schichtarbeit Bettwäsche genäht wurde, für den Export in den Westen.

Sie hätten ihre Wäsche später auf den Wühltischen westdeutscher Kaufhäuser wiedergefunden, erzählen die Frauen.

Die Zusammenlegung der Republikflüchtigen mit den Kriminellen war System in Hoheneck. Die Gewalttäterinnen standen höher in der Hierarchie, hatten das Sagen in den Zellen, bespitzelten die politischen Gefangenen. Es gab Razzien in den Zellen, nach der Schicht wurden die Frauen peinlich genau durchsucht. Erwischt zu werden, wenn man etwas mitgehen ließ, weil man sich aus erschmuggelten Stoffresten Unterwäsche genäht oder die Häftlingskleidung mit Stickerei verziert hatte, bedeutete, wieder in die Dunkelzelle zu müssen.

Die meisten Frauen, die nach Hoheneck kamen, hatten nur ausreisen wollen. Hatten ihrem Freund in den Westen folgen, ein Leben in Freiheit leben wollen. Dafür gab es in der DDR eine Reihe von Strafparagrafen: „versuchte Republikflucht“, „illegale Verbindungsaufnahme“, „staatsfeindliche Hetze“ bis zu „landesverräterischer Agententätigkeit“.

Schlimm traf es die Mütter: Ihre Kinder kamen in Heime, manche bis zur Wende. Einmal im Vierteljahr durften die Mütter einen Brief schreiben und ein Foto behalten. Familien zerbrachen an diesen Trennungen, die Frauen berichten von Zwangsadoption, Entfremdung und jahrelangen Vorwürfen. An den Folgen leiden die meisten bis heute.

Aus Eike Radewahns Stimme klingt noch immer das ungläubige Entsetzen der jungen Frau, wenn sie von ihrer Ankunft in Hoheneck berichtet. Sie ist aufgeregt. Es ist das erste Mal, dass sie öffentlich über ihre Erfahrungen spricht. Sie muss tief durchatmen. Sie war Leistungsschwimmerin, wollte 1984 mit Freunden von Rumänien aus über die Donau in den Westen fliehen und wurde gefasst. Im Untersuchungsgefängnis in Bukarest hat man sie vergewaltigt, in Hoheneck fand sie sich unter Kindsmörderinnen wieder. „Dass es so etwas wie Kindsmord gibt, war mir gar nicht bekannt, da berichteten die Medien nicht darüber.“ Und nun saß sie in der Zelle mit diesen Frauen und traute sich nächtelang nicht zu schlafen, aus Angst, sie würde ebenfalls umgebracht. „Die Haft hat einen anderen Menschen aus mir gemacht“, sagt Eike Radewahn, die heute 47 Jahre alt ist.

Es hat bei vielen lange, oft Jahrzehnte gedauert, bis sie reden konnten über das, was ihnen widerfahren war. Und noch heute machen sie die Erfahrung, dass sie nicht alles sagen dürfen. Namen von Wächtern und Stasi-Spitzeln nennen sie nicht, aus Angst vor juristischen Folgen, wie sie beispielsweise Ellen Thiemann erlebt hat. Auch sie war bei einem Fluchtversuch verhaftet worden, 1972 war das. Nach der Wende erfuhr sie, dass ihr Mann, ein wichtiger DDR-Sportreporter, die gemeinsam geplante Flucht an die Stasi verraten hatte. Sie nahm den Kampf auf, klagte gegen die ehemaligen Richter, die Staatsanwältin, den Anstaltsleiter, den Anstaltsarzt. Erfolglos, alle 24 Anklagen verliefen im Sande, die Taten waren verjährt. „Ich wollte nicht Rache, ich wollte nur Gerechtigkeit“, sagt sie im Rückblick. Dann wurde Ellen Thiemann ihrerseits verklagt, weil sie in ihrem Erinnerungsbuch „Stell dich mit den Schergen gut“ schon 1984 Namen genannt hat. Eine Wärterin verlangte Schadensersatz.

Ab 1977 konnten die Gefangenen von der Bundesrepublik freigekauft werden. Fast 34 000 Häftlinge entgingen so weiteren Jahren in Haft. „Ich dachte immer, irgendwann bin ich im Westen, und ihr bleibt hier“, sagt Marita Ulbricht, die an der Humboldt-Universität als Sekretärin arbeitete und zu ihrem französischen Freund in den Westen wollte. Dieser Gedanke habe sie getröstet während der Haftzeit. Doch die Täter sind ihr nachgekommen, nach 1989, und leben ihr ganz normales Leben, bekommen ihre Rente. „Manchen Menschen gönne ich die Wende nicht“, sagt Marita Ulbricht.

Es sind solche Geschichten, die derzeit auch die aktuelle Politik aufmischen, wenn der neue Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, Roland Jahn, alle früheren Stasi-Mitarbeiter aus dem Amt entfernen möchte, um den Opfern die erneute Begegnung zu ersparen.

Die Frauen von Hoheneck jedenfalls kämpfen seit 20 Jahren dafür, dass ihre Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. Schon 1991 gründeten sie ihren „Frauenkreis“, der sich für eine Gedenkstätte einsetzt, Besucher einlädt.

Die Haftanstalt wurde 2001 geschlossen und 2004 vom Land Sachsen an einen privaten Investor aus dem Saarland verkauft. Der träumte zum Entsetzen der Ehemaligen von Erlebnisgastronomie, von Knastfrühstück in der Zelle und Jailhouse-Feeling. Der Werbefilm, der immer noch auf der Homepage zu finden ist, spricht von dem „mystischen Ort“ und seiner „rätselhaften Geschichte“, rühmt die vielseitige Verwendbarkeit des verkehrstechnisch optimal gelegenen Ortes. „Gefängnisschloss Hoheneck hält seine Tore für Sie offen“, verspricht der Off-Kommentar künftigen Investoren.

Die Frauen von Hoheneck empfanden das als Hohn, und inzwischen ist man auch auf Investorenseite einsichtig geworden. Dass Event und Spaßkultur nicht zu dem Ort passen, sagt Jens Franz als Vertreter des Eigentümers. Dessen Vision heute ist eher ein Begegnungszentrum mit angeschlossener Hotellerie, ein Informationsort, an dem sich Klassen und Jugendgruppe mit der DDR-Haft- und Fluchtgeschichte befassen könnten. Wenn sie sich die Geschichten anhören, die Anita Goßler und die anderen zu erzählen haben. Wenn sie die Anstrengung in den Gesichtern der Frauen erkennen. Die Anstrengung, mit den gemachten Erfahrungen zu leben. Und die Anstrengung, die es sie kostet, ihre Geschichte wieder zu erzählen, wieder an diesen Ort zurückzukehren. Bei Anita Goßler hat es 50 Jahre gedauert, bis sie den Mut zur Rückkehr fand.

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