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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) fährt in der Corona-Politik einen vorsichtigen Kurs.

© Markus Schreiber/Pool via REUTERS

Höheres Risiko bei sinkender Inzidenz?: Merkels Impfrechnung erklärt die Vorsicht der Regierung

Die Kanzlerin will auch künftig in der Corona-Politik vorsichtig fahren – trotz Impfungen. Ein Satz im Eckpunktepapier des Impfgipfels sorgt für Verunsicherung.

Von Gloria Geyer

Der große Freiheitsfahrplan blieb beim Bund-Länder-Impfgipfel am Montag aus. Zu einigen hochsensiblen Fragen gibt es noch keine Beschlüsse - aus Sorge vor Streit. Und auch alle Maßnahmen, die per Verordnung kommen sollen, brauchen noch die Zustimmung und Billigung von Bundestag und Bundesrat. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zufolge soll der Bundesrat am 28. Mai final abstimmen. Vor Juni ist wohl nicht mit neuen Regeln zu rechnen.

Stattdessen sorgt eine Inzidenz-Rechnung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) für Verunsicherung. Merkel stellte in Bezug auf den Sommerurlaub klar, dass Lockerungen von der „Grundinzidenz“, also vom tatsächlichen Infektionsgeschehen, abhängig seien. Denn, wenn mehr Menschen vollständig geimpft seien, sei auch die Inzidenz anders zu bewerten. Merkels Rechnung: Wenn 50 Prozent der Bevölkerung in Deutschland geimpft sind und 50 Prozent nicht, bedeutet eine Inzidenz von 100, dass sie tatsächlich bei 200 liegt.

Zum Verständnis: Bei einer vollständig ungeimpften Bevölkerung haben alle Menschen das gleiche Ansteckungsrisiko bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100. Liegt die Impfquote aber bei 50 Prozent, kann sich die geimpfte Hälfte der Bevölkerung kaum noch infizieren - das Risiko einer Ansteckung steigt für den ungeimpften Bevölkerungsteil. Eine Inzidenz von 100 bedeute letztlich also das doppelte Ansteckungsrisiko, so die Kanzlerin.

Die Kanzlerin erklärte weiter, dass, auch wenn die Hälfte der Bevölkerung einen Impfschutz habe, „immer noch ein erhebliches Risiko für unser Gesundheitssystem“, bestünde. Der Bezug auf die „Grundinzidenz“ unterstreicht, mit welcher Vorsicht Merkel die weitere Corona-Politik und Lockerungen gestalten will.

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Kritik für Merkels Einschätzung gibt es vom Epidemiologen Klaus Stöhr: „Mathematisch ist die Berechnung richtig, für die Seuchenbekämpfung ist sie aber nicht relevant.“ Auch wenn die Meldeinzidenz mathematisch steige, „sinkt das Infektionsrisiko mit der Impfquote“, sagte Stöhr im Gespräch mit der „Bild“-Zeitung. Er warnt: „Eine Anpassung der Inzidenz-Formel würde die Lage verfälschen und das Infektionsrisiko überhöhen.“

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Neben der Inzidenz-Rechnung verunsichert ein prägnanter Satz im Eckpunktepapier des Impfgipfels. „Ziel ist die Aufhebung aller Schutzmaßnahmen, sobald eine Gemeinschaftsimmunität der Bevölkerung erreicht ist“, heißt es in dem Dokument.

Herdenimmunität oder Impfangebot?

Das wirft Fragen auf. Zuvor betonte die Bundesregierung, die Restriktionen könnten zurückgenommen werden, sobald allen Menschen ein Impfangebot unterbreitet wurde - und das soll laut Merkel und den Ministerpräsident:innen Ende des Sommers der Fall sein. Modellierungen des Zentralinstitutes für die kassenärztliche Versorgung (ZI) zufolge könnte dies allerdings schon früher eintreten. Sie rechnen damit, dass bis zum 4. Juli die impffähige Bevölkerung eine Erstimpfung erhalten hat. 54 Prozent könnten dann bereits vollständig geimpft sein.

Das Problem: Zeitlich liegen eine „Gemeinschaftsimmunität“ und ein Impfangebot für alle wohl dennoch auseinander. Die Immunität der Bevölkerung dürfte erst später erreicht werden. Die Schätzungen, wann, also bei welchem Grad an Immunität die so genannte Herdenimmunität erreicht ist, gehen bei den Epidemiologen weit auseinander - sie reichen von 50 bis 90 Prozent. Dieser Anteil der Bevölkerung müsste also immun sein. Der Wert ist auch abhängig davon, welche Virusvariante vorherrschend ist.

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Das Robert Koch-Institut (RKI) teilte bereits mit: „Durch die ansteckendere britische Mutante, die inzwischen auch in Deutschland dominiert, ist der Anteil der Immunität, die man fürs Stoppen braucht, gestiegen, die anfangs vermuteten etwa 60 Prozent reichen nicht mehr, vermutlich sind es jetzt 70-80 Prozent.“

In der Rechnung müssen auch Genesene berücksichtigt werden. Sie gelten - zumindest vorerst - als immun. Es ist allerdings unklar, welchen Anteil sie an der Gesamtbevölkerung haben. Denn laut RKI sind die laufenden Antikörperstudien nicht aussagekräftig genug, um einen bundesweiten Durchschnitt zu ermitteln. Laut offiziellen Zahlen gelten rund drei Millionen Menschen in Deutschland als genesen, also rund 3,6 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Das RKI geht davon aus, dass jede zweite Infektion nicht offiziell registriert wurde. Insgesamt wären somit rund 7,2 Prozent der Bevölkerung in Deutschland genesen und vorerst immun.

Das ZI rechnet bei einer Herdenimmunität ebenfalls mit Werten in der Mitte. Eine Gemeinschaftsimmunität könnte laut ZI erreicht werden, wenn 70 bis 83 Prozent der Bevölkerung einen vollständigen Schutz haben. Eine Immunisierung von 70 Prozent der Bevölkerung könnte den Modellierungen zufolge bis Mitte Juli erreicht werden. Auch unter der Voraussetzung, dass es ausreichend Impfwillige gibt.

Zuletzt befürchteten Politiker:innen und Expert:innen, dass Menschen mit Migrationshintergrund eine größere Impfskepsis haben. Ein klares Bild gibt es für den Bund bislang nicht, doch die Rückmeldungen aus den Ländern deuten darauf hin, dass sich ein größeres Problem entwickeln könnte.

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnt zugleich davor, sich zu sehr auf die Herdenimmunität zu verlassen. „Angenommen die Herdenimmunität läge bei 70 Prozent. Der Laie denkt dann häufig, wenn sich 70 Prozent impfen lassen, kann sich der Rest nicht mehr infizieren. Das ist aber falsch“, sagte Lauterbach der „Welt“.

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„Die Pandemie wird Einzelne nicht verschonen, man wird entweder krank oder geimpft“, sagte Lauterbach. Eine Aufhebung der Maßnahmen sei nur bei einer hohen Durchimpfung der Bevölkerung möglich. „Wenn allen Menschen ein Impfangebot gemacht wurde, heißt das noch nicht, dass die Bars so offen sein können wie vor der Pandemie“, meinte er. „Ich rechne damit, dass Menschen Impfpässe oder Antigen-Tests zeigen werden müssen, zumindest in Lokalitäten, wo das Risiko sehr hoch ist.“

Ob die Restriktionen nun bei einer Herdenimmunität oder bei einem unterbreiteten Impfangebot für alle beendet werden sollen, ist unklar - wenn auch das Kanzleramt betont, an dem bisherigen Kurs festhalten zu wollen. „Es ist kein Strategiewechsel geplant“, zitiert die „Welt“ eine Sprecherin.

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Vielmehr gelte das, was Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) der Funke-Mediengruppe in einem Interview sagte: „Diejenigen, die ihr Impfangebot nicht wahrnehmen, treffen ihre individuelle Entscheidung, dass sie das Erkrankungsrisiko akzeptieren. Danach können wir aber keine Grundrechtseinschränkung eines anderen mehr rechtfertigen.“

Laut dem Impfquotenmonitoring des RKI haben bislang knapp 19,9 Menschen ihre erste Impfdosis erhalten. Vollständig geimpft sind davon rund 6 Millionen Menschen (Stand 27.04., 9.20 Uhr). Somit sind 23,9 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal gegen das Coronavirus geimpft; den vollständigen Schutz haben 7,3 Prozent der Bevölkerung erhalten. Rechnet man die Genesenen dazu sind derzeit 14,5 Prozent der Bevölkerung immun. (mit KNA, dpa)

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