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Physiotherapie wird in Berlin deutlich öfter als in anderen Bundesländern verordnet. Warum, weiß keiner so genau.

© Kitty Kleist-Heinrich

Höchste Heilmittelausgaben: Berlin ist die Hauptstadt der Massagen

In keinem anderen Bundesland müssen die Kassen so viel für Massagen und Sprechtherapien ausgeben wie in Berlin. Medizinisch lässt sich das nicht begründen.

Für Massagen und andere Heilmittel müssen die Krankenkassen deutschlandweit immer mehr Geld lockermachen – und Berlin liegt dabei einsam an der Spitze. Im Ländervergleich werden hier pro Kopf so viele Leistungen von Physio- und Ergotherapeuten, Logopäden und Podologen verordnet wie nirgendwo anders.

Zu diesem Befund kommt die Krankenkasse Barmer GEK in ihrem aktuellen Heil- und Hilfsmittelreport. Während die Heilmittel-Ausgaben 2015 in Bremen auf jeden ihrer Versicherten umgerechnet nur knapp 66 Euro betrugen, waren es in der Bundeshauptstadt fast 122 Euro – also 85 Prozent mehr. „Man kann auch sagen, dass die Bremer quasi den großzügigen Heilmittel-Einsatz der Berliner finanzieren“, resümierte der Saarbrücker Mediziner und Autor der Studie, Daniel Grandt. Er bezeichnete ein derartiges regionales Ausgabengefälle als nicht akzeptabel.

Unterschiede zwischen den Regionen betragen teilweise mehr als 200 Prozent

Tatsächlich liegen die Kassenausgaben für Massagen, Fußbehandlung, Sprech- und Bewegungstherapien je nach Region teilweise um mehr als 200 Prozent auseinander. An der Spitze rangieren neben Berlin noch Hamburg und Sachsen, am unteren Ende stehen Bremen, Hessen und Nordrhein-Westfalen.

Zur Erklärung taugen also weder die höhere Therapeutendichte in Stadtstaaten noch irgendwelche Ost-West-Unterschiede. In Berlin kommen rechnerisch beispielsweise auf 1000 Einwohner 1,05 Physiotherapeuten. Bremen hat mit 1,023 fast genauso viele.

Ausgabendifferenzen sind medizinisch nicht erklärbar

Auch medizinisch und durch Vergütungsunterschiede seien die Ausgabendifferenzen nicht begründbar, sagte Barmer-Vorstandschef Christoph Straub. Sein einziger Erkläransatz: „Offenbar gibt es sehr unterschiedliche Herangehensweisen bei der Verordnung.“

Die höchsten Kosten im Ländervergleich produziert Berlin sowohl bei der Physiotherapie als auch bei der Logopädie. Bei Massagen, Fango & Co. kommt die Bundeshauptstadt pro Kopf auf 83,77 Euro, am unteren Ende liegt Bremen mit 46,45 Euro. Bei der Sprech- und Stimmtherapie differieren die Ausgaben der beiden Stadtstaaten um 73 Prozent (5,76 Euro versus 10,01 Euro).

Hamburg und Sachsen sind bei den Verordnungen auch ganz oben

In der Ergotherapie steht Berlin mit 15,33 Euro pro Versicherten auf Rang Zwei, hier reicht die Kostenspanne von 7,06 Euro in Bremen bis zu 15,45 Euro in Hamburg. Und bei der Fußheilkunde wird Berlin mit 2,15 Euro pro Kopf von Sachsen (2,40 Euro) und NRW (2,20 Euro) übertroffen. Bremen liegt bei 0,78 Euro.

Die Gründe für dieses extreme Auseinanderdriften bleiben in der Studie im Dunkeln. Ärzte müssten das verordnen, was medizinisch erforderlich und wirtschaftlich sei, sagt Grandt. Dass die Ausgaben pro Patient in einigen Regionen doppelt so hoch seien wie in anderen, zeige aber deutlich, „dass die Verordnung regional unterschiedlichen Kriterien folgt“. Das sei weder im Sinne einer evidenzbasierten Medizin noch der Versicherten.

Der Mediziner fordert deshalb weitere Analysen zum Verordnungsverhalten seiner Kollegen. „Es wäre zu begrüßen, wenn die kassenärztlichen Vereinigungen sich darüber austauschten, wodurch der regional so unterschiedliche Einsatz von Heilmitteln zustande kommt und wie eine medizinisch sinnvolle und wirtschaftliche Verordnung bundesweit erreicht werden könnte“, sagt er. In Bremen gelinge das offensichtlich besonders gut.

Neues Gesetz könnte Kosten weiter in die Höhe treiben

Insgesamt sind die Ausgaben für Heilmittel bei der Barmer seit 2013 um mehr als 15 Prozent auf 822 Millionen Euro gestiegen. Das entspricht einem Zuwachs um 111 Millionen Euro. Und ein neues Gesetz könnte diese Kosten noch mal rapide in die Höhe treiben. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) plant nämlich, die Heilmittel- Behandlung von Kassenpatienten deutlich zu vereinfachen.

Mit Blanko-Verordnungen vom Arzt sollen die Therapeuten künftig selber entscheiden dürfen, womit und wie lange sie ihre Patienten behandeln dürfen. „Wenn der Therapeut die Leistung und damit die Höhe seines Lohns selbst festlegen kann, dann bedarf es keiner Glaskugel, um eine weitere Ausgabenentwicklung vorherzusagen“, kommentiert Barmer-Chef Straub dieses Vorhaben. Über Blanko-Rezepte würden die Patienten aber „nicht automatisch besser versorgt“ – zumindest nicht, solange die Kriterien für den Heilmitteleinsatz regional so unterschiedlich seien.

Studienautor plädiert für Budgets

Auch Studienautor Grandt zeigt sich besorgt – und plädiert für eine Budgetierung der Heilmittelausgaben. Sonst, so sagt er, bestünde die Gefahr, dass insbesondere dort die Heilmittelanwendungen häufiger würden, wo es viele Therapeuten gebe. Denn anders als bei den Ärzten gebe es bei den Heilmittelerbringern bisher keine Bedarfsplanung.

Dies erklärt die enorme Streuung der Therapeutendichte in Deutschland. Während dem Report zufolge in NRW ein Physiotherapeut auf 2137 Barmer-Versicherte kommt, beträgt das Verhältnis in Brandenburg eins zu 806. „Es gibt keinen Grund, warum einige Regionen mehr als doppelt so viele Physiotherapeuten brauchen sollten als andere“, so Grandt.

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