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Bis heute wird Stalin in Russland verehrt.

© Vano Shlamov, AFP

Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939: Ein Gedenktag, den Russen und Deutsche ignorieren

Nationalsozialismus und Sowjet-Kommunismus: Ein gesamteuropäisches Gedächtnis muss alle Opfer der beiden totalitären Regime umfassen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Geschichte kann verwirren, verstören, Abwehrreflexe provozieren. Sie kann erhellen, wehtun und zur Relativierung missbraucht werden. Ein Beispiel: Wann begann der Zweite Weltkrieg? In Deutschland ist die Antwort klar: Er begann am 1. September 1939 mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen. In Russland dagegen beginnt der „Große Vaterländische Krieg“ erst im Juni 1941 mit dem „Unternehmen Barbarossa“, dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion. Wer den Unterschied verstehen will, muss eine zweite Frage stellen: Was führte zum Zweiten Weltkrieg?

Insbesondere in Osteuropa und dem Baltikum lautet die Antwort: der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939, unterzeichnet in Moskau vom Außenminister des „Dritten Reiches“, Joachim von Ribbentrop, und seinem Amtskollegen aus der Sowjetunion, Wjatscheslaw Molotow. Es war ein Nichtangriffsvertrag, der es Hitler erlaubte, in den westlichen Teil Polens einzumarschieren, während Stalin 16 Tage später den Osten Polens überfiel.

Stalin konnte auf Finnland, Estland und Lettland zugreifen

In der Mitte des Landes trafen sich die Verbündeten dann zu einer gemeinsamen Siegesparade. Zwischen 1939 und 1941 ermordeten die Soldaten von Wehrmacht und Roter Armee rund 200.000 polnische Zivilisten. Außerdem konnte Stalin durch den Pakt ungehindert auf Finnland, Estland und Lettland zugreifen.

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In Russland, wo Stalin heute beliebter ist als ein Michail Gorbatschow, wird der 23. August 1939 weitgehend ausgeblendet. Stalin hatte Hitler besiegt, die Rote Armee hatte Europa vom Faschismus befreit, mehr als 20 Millionen Sowjetbürger waren von den Nazis umgebracht worden: Dieser Dreiklang prägt die offizielle Geschichtsschreibung. Dass die Veteranen der Roten Armee sowohl Opfer als auch Täter, Sieger und Besatzer waren, dringt nicht ins Bewusstsein. Keine Schmach darf stärker sein als der Stolz.

Die prägenden europäischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts

Dieser Stolz darf nicht gefährdet werden, nicht durch den Gulag, die Zeit des Großen Terrors, die „Säuberungen“, den Holodomor – die von Stalin verursache Hungersnot, der Millionen Ukrainer erlagen –, das Leiden der Krim-Tataren. Er darf auch nicht gefährdet werden durch die Verbrechen des sowjetischen Besatzungsregimes.

Für viele Völker jenseits des Eisernen Vorhangs, im Machtbereich Moskaus, folgte auf den Sieg über den Nationalsozialismus eine andere, die kommunistische Diktatur. Nationalsozialismus und Kommunismus erwiesen sich als die prägenden europäischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts.

Eine gesamteuropäische Erinnerungskultur muss alle Opfer der beiden totalitären Regime umfassen. Deshalb hat das Europaparlament im April 2009 mit großer Mehrheit den 23. August zum „Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus“ erklärt. Als Gründungsdokument gilt die „Prager Erklärung zum Gewissen Europas und zum Kommunismus“. Sie wurde im Juni 2008 von mehreren europäischen Politikern, darunter Joachim Gauck, Vaclav Havel und Vytautas Landsbergis, unterzeichnet.

In den baltischen Staaten, Bulgarien, Kroatien, Polen, Ungarn und Slowenien wird der Gedenktag begangen. In Polen, Ungarn und Tschechien steht, analog zum deutschen Holocaust-Leugnungs-Verbot, auch die Leugnung, Billigung oder Rechtfertigung kommunistischer Verbrechen unter Strafe.

Ein neues, diesmal unfreiwilliges Zusammenspiel

In Deutschland dagegen dominiert nach wie vor die Angst, durch eine Parallelisierung von Stalinismus und Nationalsozialismus die Verbrechen der eigenen Geschichte zu relativieren. Doch der 23. August stellt als Gedenktag weder die Singularität des Holocaust in Frage, noch verdrängt er den 27. Januar als „Internationalen Gedenktag an die Opfer des Holocaust“.

Russland verschweigt das Datum, das an die zeitlich begrenzte Kooperation von Hitler und Stalin erinnert, aus Sorge um den Nationalstolz. Deutschland geht kaum offener damit um – aus Sorge um den Vorwurf, den Holocaust relativieren zu wollen. Die bittere Ironie der Geschichte ist es, dass dieses unfreiwillige Zusammenspiel die Würde der Opfer des sowjetischen Kommunismus aus dem Blick verliert. Das aber ist eine Schande.

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