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Herfried Münkler, Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie an der Berliner Humboldt-Universität.

© Thilo Rückeis

Herfried Münkler zur großen Koalition: "Angela Merkel kann keinen Aufbruch"

Der Politologe Herfried Münkler spricht im Tagesspiegel-Interview über Erneuerung in der Politik, die Bedeutung von Charisma und die Generation Flüchtlingskrise.

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Herr Professor Münkler, sehen Sie irgendwo Zeichen von Aufbruch in der deutschen Politik?

Zunächst einmal sehe ich vor allem, dass die Politik sich bemüht, Liegengebliebenes aufzuarbeiten. Schauen Sie auf die Koalitionsverhandlungen: der Familiennachzug, die Pflege, Veränderungen in der Arbeitsmarktpolitik – da wird überall nur nachgearbeitet. Wenn dieser Koalition irgendwo ein Aufbruch gelingen könnte, dann allenfalls in der Europapolitik. Da kommt es natürlich nicht nur auf eine Verabredung an, sondern auch darauf, was eine Regierung von Union und SPD dann daraus machen würde.

Warum wirken Union und SPD so erschöpft?

Die Union hat ja bei den Jamaika-Gesprächen schon eine sehr aufwendige Runde von Verhandlungen hinter sich gebracht. Die Sozialdemokraten sind erschöpft, weil sie neben den Verhandlungen noch die Kämpfe innerhalb ihrer Partei um den richtigen Kurs ausfechten müssen. Dazu kommt: Für alle drei Parteivorsitzenden ist die Bildung dieser Koalition eine existenzielle Frage. Das gilt für Horst Seehofer, er hat sein Amt als Ministerpräsident schon aufgegeben. Das gilt für Martin Schulz, der ohne große Koalition wahrscheinlich von den eigenen Leuten gestürzt würde. Und das gilt für Angela Merkel, deren Kanzlerschaft nach einem Scheitern dieser Koalition über kurz oder lang beendet wäre. Wir beobachten also die Erschöpfung von Politikern, die in die Schlussphase ihrer politischen Karriere eingetreten sind.

Auf der anderen Seite begeistert der 28-jährige Juso-Chef Kevin Kühnert viele Menschen, die Grünen stellen neue, interessante Leute an ihre Spitze. Ist das nur ein Medienphänomen – oder geht die Sehnsucht nach Erneuerung tiefer?

Natürlich ist das ein Medienphänomen. Was Kevin Kühnert bisher zu sagen hat, halte ich nicht für besonders aufregend. In mancher Hinsicht war es auch falsch. Die Vorstellung, die SPD könne sich in der Opposition erholen und neue Kraft schöpfen, ist gebunden an Bedingungen, die so nicht mehr gegeben sind. Das würde womöglich in einem Zwei- oder Drei-Parteien-System funktionieren, wo die eine Volkspartei regiert und die andere Opposition macht sowie eine kleine Partei dann den Ausschlag gibt, wer den Kanzler stellt. Unser Parlament sieht aber längst anders aus, die Regierungsbildung funktioniert auch anders. Kevin Kühnert ist „gehypt“ worden, ohne dass dem eine erkennbare Substanz zugrunde liegt. Denn natürlich sind auch die Journalisten erschöpft.

Haben nicht auch die Bürger eine Sehnsucht nach Erneuerung?

Da bin ich skeptisch. Ich sehe immer noch einen starken Wunsch nach Stabilität, und die wird immer noch am ehesten Angela Merkel zugetraut. Es gibt freilich so etwas wie ein Bedürfnis nach Charismatikern. Davon gibt es in der deutschen Politik derzeit nicht sehr viele.

In Frankreich hat mit Emmanuel Macron eine einzige Person die politische Landschaft umgepflügt...

Etwas Ähnliches könnte auch in Deutschland passieren. Frankreich hat zwar ein anderes Wahlsystem, aber nachdem weder die rechte noch die linke Mitte es dort geschafft hatte, das Land zu modernisieren, war der Wunsch nach einem Ende des Stillstands stark. Wenn es in Deutschland die sogenannte große Koalition nicht schafft, so etwas wie eine Stimmung von Aufbruch zu verbreiten, dann wird die Sehnsucht nach charismatischen Figuren auch bei uns stärker werden. Ein Charismatiker kann durch seinen individuellen Auftritt kompensieren, was an programmatischer Überzeugungskraft fehlt.

Was hat sich geändert, dass Charismatiker in Deutschland heute eine größere Chance hätten?

Wir erleben, dass das System mit zwei großen Volksparteien, eine Mitte-rechts, eine Mitte-links, nicht mehr geeignet ist, vielfältiger gewordene Wählerwünsche einzufangen. In dieser zersplitterten politischen Landschaft kann eine starke Persönlichkeit leichter Wähler binden und eher 40 Prozent der Stimmen erreichen als ein politisches Programm. Das wird auch unsere Politik in Zukunft stärker prägen. Der letzte deutsche Charismatiker, der mir einfällt, ist Karl-Theodor zu Guttenberg. Der ist zwar krachend gescheitert, aber er hat zuvor perfekt das Versprechen von Dynamik verkörpert.

Wie erklären Sie sich denn die anfängliche Begeisterung für Martin Schulz – wenn nicht mit Charisma?

Einen Charismatiker habe ich nie in ihm gesehen. Er war aber im Berliner Politikbetrieb nicht verbraucht, man konnte auf ihn alle möglichen Erwartungen projizieren. Als die Leute dann genauer hinsahen, merkten sie schnell: Er löst das nicht ein, was sie von ihm erwartet hatten. Das andere Problem war, dass er nicht gestählt war im Machtkampf der Bundespolitik. Brüssel ist ja nur ein Spielplatz von Helden, die sich schnell als Scheinriesen erweisen. Die Kämpfe in einer Volkspartei sind doch von anderer Qualität. Nebenbei gesagt: Wer mit 100 Prozent gewählt wird, kann nur verlieren.

Angela Merkel hofft, dass mit der großen Koalition ein Aufbruch verbunden sein wird. Hat sie dafür überhaupt noch die Kraft?

Merkel hat eigentlich noch nie über die Fähigkeit verfügt, emphatische Formulierungen für politische Ziele zu finden. Das hat sie freilich auch stark gemacht, nämlich in die Lage versetzt, in schwierigsten Lagen mit unterschiedlichsten Partnern komplizierte Kompromisse auszuloten und zu schließen. Eine mitreißende Rhetorik ist ihr nicht gegeben. Der Vorwurf, sie habe eine asymmetrische Demobilisierung betrieben, indem sie ihre Gegner im Wahlkampf einlullte, bis keine Unterschiede mehr zu sehen waren, trifft darum nicht wirklich zu. Ich glaube: Sie kann gar nicht anders, das ist ihr Charakter.

Ist Merkel mit ihrem Stil, den Sie „Politik der strategischen Fehlervermeidung“ nannten, an ein Ende gekommen?

Der Florentiner Politiktheoretiker Niccolò Machiavelli hat von „qualità dei tempi“ gesprochen, womit er die konkreten Umstände einer Zeit gemeint hat. Lange haben Merkels persönlicher Stil und die Herausforderungen, denen sie begegnen musste, sehr gut zueinander gepasst. Aber die Zeiten haben sich geändert. Es kommt jetzt nicht nur darauf an, dass moderiert und ausgeglichen wird und dass unsere Politik das Bestehende gut verwaltet.

Sie sind der Ansicht, dass es in einer Republik wie Deutschland alle 25 Jahre einen „Prozess der Revitalisierung“ geben muss, bei dem neue politische Generationen nach vorne kommen. Ist dieser Zeitpunkt jetzt?

Eigentlich ja. Die Herausforderungen der Flüchtlingskrise haben die Schwäche der Kanzlerin deutlich hervortreten lassen. Sie hat zwar gesagt: „Wir schaffen das.“ Sie hat den Prozess dieses Schaffens aber nicht weiter angeleitet. Sie hat eine vermutlich richtige Entscheidung getroffen, aber sie hat das ungeschickt kommuniziert und sich häufig mit einer gewissen pampigen Art dazu geäußert. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass sie Aufbruch nicht kann. Gleichzeitig hat die Flüchtlingskrise bei uns eine ungeheure gesellschaftliche Mobilisierung hervorgebracht.

Die neue politische Generation ist also die Generation Flüchtlingskrise?

Wenn man so will, ja. Lange wurden deutsche Generationen nach Kriegen benannt: Vorkriegsgeneration, Kriegsgeneration, Nachkriegsgeneration. Dann gab es Gott sei Dank keine Kriege mehr, es kam die Generation Golf. Das war einer konsumistischen Gesellschaft angemessen. Doch jetzt gibt es in Hinsicht auf Konsum keinen Nachholbedarf mehr, die Gesellschaft ist gesättigt. Es gab ja auch keine Generation Handy. Insofern beobachten wir eine Rückkehr aus der Konsumdimension in politische Projekte – was 25 Jahre nach dem Mauerfall und den Herausforderungen der Vereinigung eben die Flüchtlingskrise ist.

Christian Lindner verkauft sich als Vertreter einer neuen politischen Generation, als einer, der nach Merkel kommt. Seine Absage an Jamaika war auch eine Wette auf die Zukunft. Kann das aufgehen?

Lindner hat sich entschlossen, die FDP in einem kühnen Schwenk rechts der CDU zu positionieren, weil er davon ausgeht, dass die AfD langfristig keine Alternative für bürgerliche Wähler ist. Lindner ist damit gewissermaßen zurückgekehrt zu einer nationalliberalen FDP, wie sie es in den 1960er Jahren war. Eine solche Positionierung wäre innerhalb der Regierung nicht möglich gewesen. Das konnte er natürlich so nicht sagen, aber seine Erklärung für das Jamaika-Aus war so schwach, dass alle anfingen, über seine wahren Motive zu rätseln.

Einen weiteren politischen Neuanfang wollen Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine wagen mit ihrer Idee der linken Sammlungsbewegung.

Das wird nicht funktionieren. Grüne und SPD werden einen Teufel tun, hinter der Fahne von Sahra Wagenknecht herzulaufen. Der Vorstoß ist gewissermaßen der verzweifelte Versuch von Wagenknecht, das Missverhältnis zwischen ihrer eigenen Selbstwahrnehmung und den realen Machtoptionen der Linken zu schließen. Sie hat ja gesehen, dass dieses Sich-selbst-ins-Zentrum-Stellen bei Macron und Sebastian Kurz funktioniert hat. Und die Selbstinszenierungseitelkeit von Frau Wagenknecht kann man in jeder Talkshow besichtigen.

Was bedeutet das denn eigentlich: eine neue politische Generation? Dabei geht es ja weniger um das Alter als um den Politikstil, oder?

Die Strukturen der politischen und sozioökonomischen Welt haben sich verändert. Die Zeit der langfristigen und sicheren Beschäftigungsverhältnisse ist vorbei. Auch in der Politik gibt es jetzt Projekte: Projekt Sahra, Projekt NoGroko. Diese Politiker bewegen sich weg von den Volksparteien und deren langfristig angelegten Bindungen. Auch die Anforderungen an sie sind andere als an einen Politiker, der an der Spitze einer Volkspartei steht und auf Ausgleich und auf Zusammenhalt der Flügel bedacht ist.

Wie sehen diese Anforderungen aus?

Die Fähigkeit, den Eindruck zu erwecken, als sei das eigene Thema das allerwichtigste Thema und alles andere sei nebensächlich. Das war im Falle von Lindner die Digitalisierung. Die Politiker der neuen Generation müssen kurzfristig mobilisieren können für eine projektförmige Idee, deren Gesicht sie dann sein wollen. Diese Politiker denken ihre Karrieren auch nicht mehr über mindestens zwei Jahrzehnte. Sie halten sich eine Weile in der Politik auf und kapitalisieren danach ihre Bekanntheit, indem sie lukrative Jobs in der Wirtschaft übernehmen. Es kommt für sie gar nicht darauf an, Politik langfristig zu denken, sondern für einen überschaubaren Zeitraum.

Hat das auch etwas damit zu tun, dass die Wähler Politik immer mehr als Dienstleistung verstehen?

Sicherlich. Es setzt sich eine Konsumentenhaltung gegenüber der Politik durch. Die Bürger engagieren sich, wie der dramatische Rückgang der Parteimitgliedschaft zeigt, weniger in Parteien, wo man häufig Kompromisse machen muss. Sie engagieren sich projektbezogen, wie in der Flüchtlingskrise. Oder sie gehen in NGOs und Bürgerinitiativen, wo es ein Vorhaben gibt, mit dem sie sich moralisch identifizieren können. Bei Greenpeace oder Human Rights Watch müssen sie keine Kompromisse machen. Wenn es ihnen nicht mehr gefällt, gehen sie eben woandershin. Das ist eine der Signaturen unserer Gegenwart: die Verkurzfristigung von politischem Handeln. Das stelle ich mit einer gewissen Melancholie fest.

Herfried Münkler ist einer der einflussreichsten deutschen Politikwissenschaftler. 1992 übernahm er den Lehrstuhl für Theorie der Politik an der Humboldt- Universität. 2018 wird er emeritiert. Münkler weist stets auf die Wirkung von Interessen und Macht hin. Zu seinen Werken zählen „Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“ (2013) und jüngst „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648“ (2017).

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