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Anhänger der militant-islamistischen Taliban marschieren in der Nähe der afghanisch-pakistanischen Grenzen.

© picture alliance/dpa/AP

Helfer Deutschlands in akuter Lebensgefahr: „Wir werden sie nicht mehr aus Afghanistan rausbringen können“

Der Politikwissenschaftler Carlo Masala wirft der Bundesregierung vor, viel zu spät mit dem Evakuieren der Ortskräfte in Afghanistan angefangen zu haben.

Carlo Masala ist Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München. Er ist Autor des Buchs: "Weltunordnung. Die globalen Krisen und das Versagen des Westens".

Herr Masala, welche Folgen hat das Scheitern des Westens in Afghanistan?
Für die afghanische Bevölkerung hat der Sieg der Taliban katastrophale Folgen. Welche Auswirkungen er auf die regionale Stabilität hat, können wir noch nicht einschätzen. Es kann destabilisierend wirken, wenn nun Teile des pakistanischen Establishments wieder die Oberhand in Afghanistan gewinnen. Afghanistan diente in der Vergangenheit ja auch als Puffer zwischen den verfeindeten Mächten Indien und Pakistan. Wenn es mehr afghanische Flüchtlinge in der Region gibt, kann das ebenfalls destabilisierend wirken. Für die internationale Stabilität oder die Sicherheit des Westens hat die neuerliche Machtergreifung der Taliban in Kabul allerdings keine Konsequenzen.

Wenn Sie sich die momentane Lage in Afghanistan anschauen – was hat der Einsatz der Nato-Truppen überhaupt gebracht?
Da gibt es zwei Seiten. Militärisch war der Afghanistan-Einsatz ein Erfolg. Es ist gelungen, Al Qaida so weit zu zerschlagen, dass die Terrororganisation nicht mehr in der Lage ist, großflächige Anschläge gegen die USA oder Europa zu planen, so wie am 11. September vor 20 Jahren in den USA. Politisch war der Ansatz von Anfang an zu hoch gegriffen: Der Westen wollte erreichen, dass Afghanistan ein stabiler Staat mit einem Minimum an normalen politischen Verfahren wird und dass es in der Gesellschaft ein gewisses Maß an Respekt vor Menschenrechten gibt. Doch es wurden zu keinem Zeitpunkt ausreichend Truppen und zivile Kräfte zur Verfügung gestellt, um das zu erreichen.

Es gab also nie eine Chance, Afghanistan zu demokratisieren und zu stabilisieren?
Es hätte vielleicht eine kleine Chance gegeben, wenn die Amerikaner nicht 2003 ihren Angriffskrieg gegen den Irak durchgeführt hätten. Dadurch wurde der Fokus der Vereinigten Staaten komplett von Afghanistan weggezogen und auf den Irak gelenkt.

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Was hat Deutschland falsch gemacht?
Es war ein Fehler, aus innenpolitischen Gründen nur mit den Händen hinter dem Rücken zu kämpfen. Wir haben, ebenso wie andere europäische Länder auch, unsere Truppe mit so vielen nationalen Vorbehalten versehen, dass sie nicht vollumfänglich einsatzfähig war. Und wir haben uns lange selbst in die Tasche gelogen über die Erfolge, die wir in Afghanistan erzielt haben. Das betrifft nicht nur Deutschland, sondern auch andere Staaten.

Carlo Masala ist Professor für Politikwissenschaften Uni der Bundeswehr München.
Carlo Masala ist Professor für Politikwissenschaften Uni der Bundeswehr München.

© privat

Einer der Aufträge war die Ausbildung der afghanischen Armee. Warum haben die rund 300.000 Soldaten nicht länger gegen die Taliban durchgehalten?
Entweder die Nachrichten über den Zustand der afghanischen Armee, die aus Afghanistan in die nationalen Hauptstädte geschickt wurden, waren gelogen. Oder sie waren ehrlich und wurden in den Hauptstädten ignoriert, weil man den politischen Erfolg brauchte. Für keinen, der sich mit der afghanischen Armee ernsthaft beschäftigt hat, kam die Kapitulation gegenüber den Taliban völlig überraschend.

Viele Ortskräfte sind noch nicht evakuiert. Hat die Bundesregierung zu spät gehandelt?
Die Bundesregierung hat viel zu spät gehandelt. Die Verteidigungsministerin hat im April erstmals die Frage des Zurückbringens der Ortskräfte auf die Agenda gesetzt. Mittlerweile sind zwar 1700 Menschen in Deutschland, aber es sind noch zu viele vor Ort und jetzt in Lebensgefahr. Es ist skandalös, wie Auswärtiges Amt und das Bundesinnenministerium dieses Verfahren verzögert und Steine in den Weg gelegt haben.

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Welche Handlungsoptionen hat der Westen jetzt überhaupt noch?
Die Taliban haben heute ein Kommuniqué erlassen, das sagt, dass sie Ausländer nicht daran hindern werden, Kabul über den Flughafen zu verlassen. Sie reden aber nicht von Afghanen. Die Amerikaner wollen ihre Evakuierungsoperation bis Dienstag abgeschlossen haben. Wir  fliegen wohl erst heute hin – und dann fängt ja auch die Evakuierungsoperation noch nicht an, weil die etwas Vorbereitung benötigt. Ich bin skeptisch, dass die Taliban Afghanen erlauben werden. Afghanistan zu verlassen. Wir dürfen außerdem eines nicht vergessen: Deutschland hat Ortskräfte, die in dem von Taliban kontrollierten Gebieten Masar-i-Scharif und in Kundus eingeschlossen sind. Diese Menschen werden den Weg bis nach Kabul nicht schaffen, wir werden sie nicht mehr aus Afghanistan rausbringen können. Das ist ein riesiges Drama.

Welche Lehren ziehen Sie aus Afghanistan für künftige Auslandseinsätze der Bundeswehr?
Man sollte die Bundeswehr nur für militärische Ziele einsetzen und nicht für Staatenaufbau. Wir haben in Afghanistan zu lange geglaubt, dass die Bundeswehr dort den Entwicklungshelfer spielen kann. Wenn man sich aber für einen Einsatz mit politischer Zielsetzung entscheidet, muss man ihn auch mit den entsprechenden Mitteln unterlegen. Afghanistan ist von der Fläche zwei Mal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Mit einem minimalen Streitkräfte-Ansatz kann es gar nicht gelingen, ein solches Land politisch und gesellschaftlich zu stabilisieren.

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