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Ist billig, macht satt. Was braucht man zu einem Leben in Würde - und wer berechnet das?

© picture alliance / Jens Kalaene/

Hartz IV und die Einkommensstatistik: Unsere Armutsdefinition taugt nicht!

Arm ist, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens seines Landes hat, das hat die EU festgelegt. Diese Art Statistik beweist: gar nichts. Ein Gastbeitrag.

Prof. Georg Cremer war von 2000 bis 2017 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes.

"Die Regelsätze müssen so weit angehoben werden, dass niemand, der ALG II bezieht, unterhalb der Armutsgrenze leben muss." Dieser Satz gehört zu den politischen Schlussfolgerungen, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) in seinem jüngsten Verteilungsbericht zieht, der in den vergangenen Tagen breit diskutiert wurde.

Auf den ersten Blick scheint diese Forderung plausibel. Transferleistungen wie das Arbeitslosengeld II und die Grundsicherung im Alter sollen Armut bekämpfen; liegen die Leistungen unterhalb der Armutsschwelle, so gelten die Empfänger weiterhin als arm, trotz staatlicher Hilfe. Die Hilfe scheint ihren Zweck zu verfehlen.

Die seltsame Wortschöpfung „Armutsrisiko“

Gedankliche Fallstricke zeigen sich erst bei einem genaueren Blick. Als im „Armutsrisiko“ lebend gelten Bürger, deren verfügbares Einkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt. Dies ist eine statistische Konvention, die die Europäische Union durchgesetzt hat. In den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung von 2001 und 2005 wurden auch Armutsgrenzen von 40 Prozent und 50 Prozent verwendet. Die EU hat sich für eine einheitliche und höhere Grenze entschieden und dies mit der Wortschöpfung „Armutsrisiko“ verbunden.

Wo aber endet das Risiko, und wo beginnt die Armut? Da hat sich die EU nie festgelegt und so ein kommunikatives Durcheinander angerichtet. Armutsrisiko und Armut werden heute weitgehend gleichgesetzt. Differenzierende Hinweise, neben dem Einkommen seien weitere Informationen zur Lebenslage notwendig, um zu entscheiden, ob eine Person in Armut lebt, verhallen ungehört. Auch den gut ausgebauten Wohlfahrtsstaaten in Skandinavien gelang es nie, allen Bürgern ein Einkommen oberhalb nämlicher 60-Prozent- Schwelle zu garantieren.

Studierende, Azubis, alle arm

Die Armutsrisikomessung mithilfe der 60-Prozent-Schwelle abstrahiert vom Wohlstandsniveau. Unabhängig vom Wohlstand einer Gesellschaft verändert sich das Ausmaß der Armut nicht, solange die relative Verteilung der Einkommen unverändert bleibt. Die Armutsrisikoquote (also der Anteil der Bevölkerung mit einem Einkommen unterhalb der 60-Prozent-Schwelle) ist somit ein Maß der Verteilung mit Fokus auf untere Einkommensgruppen. Seit Kurzem verwendet das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung synonym zur Armutsrisikoquote den Begriff „Niedrigeinkommensquote“. Das trifft den Sachverhalt eines Verteilungsmaßes besser.

Die Konnotation ist eine völlig andere; Namen sind eben nicht nur Schall und Rauch. Häufig wird beklagt, dass etwa ein Viertel der 18- bis 24-Jährigen „arm“ sei. Das lässt sich aber leicht erklären, weil sie in der Ausbildung oder im Studium häufig über weniger als rund 1000 Euro pro Monat verfügen und somit unter der 60-Prozent-Schwelle liegen. Dass Studierende in einem reichen Land in Armut leben müssen, kann man als Skandal ansehen; dass sie niedrige Einkommen haben, während sie die Grundlage für ihre häufig privilegierte spätere Berufstätigkeit legen, wird dagegen wenige empören.

Man kann Transferhöhen nicht der Statistik überlassen

Der Vorschlag des WSI, Transferleistungen auf die Höhe der Armutsrisikoschwelle anzuheben, verwandelt eine statistische Konvention in eine sozialpolitische Norm. Dies hieße, eine politisch verantwortete Bedarfsfestsetzung aufzugeben und die Transferhöhe den Statistikern zu überlassen.

Unterschiedliche Einkommenserhebungen führen zu unterschiedlichen Armutsrisikogrenzen. Welche soll maßgeblich sein? Der Wert des Mikrozensus von 969 Euro netto pro Monat, des Sozio-oekonomischen Panels von 1086 Euro oder gar 1189 Euro, der Wert, der in der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe bereits für 2013 ermittelt wurde?

Damit es in keiner der verfügbaren Erhebungen zum Ausweis einer Armutsrisikopopulation kommt, also niemand mehr im Sinne der EU-Konvention „arm“ ist, müssten sich die Transfersysteme an der höchsten Armutsschwelle orientieren. Würde dies geschehen, müssten die Transferleistungen für einen Alleinstehenden mit durchschnittlichen Kosten der Unterkunft um fast 500 Euro angehoben werden (berechnet auf die Verhältnisse von 2013).

Armut hat regionale Komponenten

Das ist eine Summe, gegen die selbst radikale Forderungen aus den Sozialverbänden verblassen. Sicherlich schwebt eine solche Erhöhung auch dem WSI nicht vor. Es zeigt sich damit also gut, dass statistische Konventionen keine sozialpolitischen Entscheidungen vorgeben können.

Und noch ein weiterer Grund spricht dagegen, dem Vorschlag des WSI zu folgen: Die Armutsmessung erfolgt mithilfe bundesweit einheitlicher Armutsrisikoschwellen. Warum sollten hilfeberechtigte Bürger in Städten mit hohen Mieten akzeptieren, dass sich die Höhe der Hilfe an einem bundesweiten Durchschnitt orientiert, der für ihre Lebenssituation völlig irrelevant ist? Weil das zu neuen Ungerechtigkeiten führen würde, müsste
ein Transfersystem entstehen, das die Unterstützungsleistung regional differenziert. Aber selbst wenn dies in pauschalierender Weise erfolgte, wäre die erreichbare Einzelfallgerechtigkeit gering.

Denn auch in der gleichen Region unterscheiden sich die Mieten je nach Lage und zwischen Altverträgen und Neuvermietung. Im heutigen Grundsicherungssystem werden für jeden Hilfeberechtigten die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung individuell ermittelt; auch hier ist das System besser als sein Ruf.

Hartz IV müsste höher sein - aber aus anderen Gründen

Je nachdem, wie hoch die Kosten der Unterkunft sind, können die Hilfen unter-, aber auch oberhalb der Armutsschwelle liegen. Diese Einzelfallgerechtigkeit haben die Wohlfahrtsverbände vehement gegen Versuche verteidigt, die Kosten der Unterkunft zu pauschalieren, was helfen sollte, an Verwaltungskosten zu sparen.

Nun kann man sich durchaus mit guten Gründen für eine Erhöhung der Transferleistungen einsetzen. Es hat einige politische Eingriffe in den Berechnungsprozess gegeben, die fragwürdig sind, allerdings bisher vom Bundesverfassungsgericht akzeptiert wurden. Das zur Berechnung angewandte Verfahren ist grundsätzlich geeignet, aber es gibt verdeckt Arme in der Vergleichsgruppe, die der Berechnung zugrunde liegt, die das Ergebnis nach unten ziehen. Auch sind die Kosten für Haushaltsstrom nicht auskömmlich. Es gibt also Grund, über die Höhe der Hilfe zu streiten. Aber der Streit muss politisch entschieden werden, nach Kriterien, die den Bedarf bestimmen, der für ein Leben in Würde notwendig ist. Die 60-Prozent-Schwelle ist dafür ungeeignet.

Georg Cremer

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