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Wie viele Flüchtlinge können wir aufnehmen, wie organisieren wir das, wo kommt das Geld her, kürzen wir dafür anderswo Mittel, wie schaffen wir Akzeptanz für die Flüchtlinge? Solche Fragen werden zu wenig gestellt, findet Harald Martenstein.

© dpa

Harald Martenstein zur Flüchtlingsdebatte: Sind wir alle Nazis?

Günter Grass will Flüchtlinge zwangsweise einquartieren. Jakob Augstein sieht den hässlichen Deutschen seine ausländerfeindliche Fratze zeigen. Tagesspiegel-Kolumnist Harald Martenstein fragt sich, warum es eigentlich nie um die Flüchtlinge und ihr Leid geht.

Günter Günter hat sich wieder zu Wort gemeldet. Grass regt an, die Flüchtlinge aus den zahlreichen Krisen- und Kriegsgebieten in unserer Umgebung bei deutschen Familien oder auch den deutschen Singles zwangsweise unterzubringen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man es nämlich so gemacht. Aus den vormals deutschen Ostgebieten sind damals 14 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge nach Restdeutschland gekommen, die wurden zum Teil zwangseinquartiert. Wenn eine Familie eine Dreiraumwohnung hatte, musste sie einen Raum an Flüchtlinge abgeben. Weil die Wohnungen heute größer sind, könnte Deutschland, nach diesem Modell, locker 20 Millionen Flüchtlinge aufnehmen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Vorschlag umgesetzt wird, ist gering. Einer Verwirklichung des Grass-Plans stehen nicht nur einige liebgewonnene Grundrechte im Wege, es dürfte auch in Teilen der Bevölkerung ein echtes Akzeptanzproblem geben. Eine gewisse Hilfsbereitschaft oder sogar Güte haben die meisten Menschen schon, dafür liebt man sie. Unbegrenzt ist die Hilfsbereitschaft leider in den seltensten Fällen. Dieses Phänomen kann man nicht nur in Deutschland beobachten.

Erstaunlicherweise hat Grass, nach allem, was man weiß, selber noch keinen Flüchtling in seinem Zuhause aufgenommen. Er ist ein sehr alter Herr. Aber wenigstens das Günter-Grass-Haus in Lübeck, sein Museum, könnte er doch zur Verfügung stellen, ein Machtwort von ihm würde genügen. Papst Franziskus scheint die Werte, die er predigt, auch selber zu leben. Günter Grass ist aus einem anderen Holz geschnitzt.

Warum lebt im Hause Augstein noch kein Flüchtling?

Anders geht der „Spiegel“-Kolumnist Jakob Augstein an das Flüchtlingsproblem heran. Er leitet aus dem „Murren über die Ausländer“ und ein paar kleinen Demonstrationen von Ausländerhassern die folgende These ab: „Der hässliche Deutsche zeigt wieder seine ausländerfeindliche Fratze. Die Deutschen“ – alle! – „formieren sich zum Widerstand. Das Volk kann immer noch ganz anders.“ Kurz, wir alle sind Nazis. Zwei Fragen stellen sich. Erstens, warum lebt auch im Hause Augstein noch immer kein Flüchtling? Zweitens: Wie kann man gegen Ressentiments anschreiben, und dabei seinen Text bis zum Platzen mit Ressentiments vollpumpen, in diesem Fall antideutschen?
Um die Flüchtlinge und ihr Leid geht es da gar nicht, es geht in beiden Fällen nur darum, sich selbst kostenlos die eigene Wohlanständigkeit zu bescheinigen. Wie viele Flüchtlinge können wir aufnehmen, wie organisieren wir das, wo kommt das Geld her, kürzen wir dafür anderswo Mittel, wie schaffen wir Akzeptanz für die Flüchtlinge? Für solche Fragen, die wichtigen, sind immer die anderen zuständig, die Nazis, die dieses Land angeblich regieren. Wir sind die Guten. Der Rest ist scheißegal.

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