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Möglicher Tatort Kinderspielplatz.

© Christian Charisius/dpa

Harald Martenstein über Kinderbücher: Pragmatismus statt Totalitarismus

Eine Autorin hat vor Kinderbüchern gewarnt, in denen Kinder vor fremden Männern gewarnt werden. Unser Kolumnist warnt vor dieser Autorin. Eine Glosse.

Eine Glosse von Harald Martenstein

In der „taz“ hat eine Autorin vor fremdenfeindlichen Kinderbüchern gewarnt. Als Beispiel nennt sie „Max geht nicht mit Fremden mit“, mein Sohn hat es. Dort wird der kleine Max, den seine Mutter kurz auf dem Spielplatz allein gelassen hat, von einem Mann angesprochen. Der Unbekannte bietet an, Max nach Hause zu bringen. Max erinnert sich an Warnungen seiner Mutter und lehnt ab. Luise Strothmann fordert: „Schmeißt diese Bücher weg!“

Außerdem schreibt sie: „Was für eine Gesellschaft entsteht, wenn wir Kindern beibringen, dass von Fremden grundsätzlich etwas Schlechtes zu erwarten ist?“ Solche Bücher arbeiteten mit Ängsten, sie sorgten dafür, dass sich Opfer schuldig fühlen. „Geh nicht mit Fremden mit“ sei ein Satz wie „zieh keinen so kurzen Rock an, wenn du nicht belästigt werden willst“. Außerdem sollten Kinder selbst „über den eigenen Körper entscheiden“. Ein Freund wird zitiert, der fragt, ob solche Bücher nicht ihren Sinn hätten, wenn durch sie nur ein einziges Kind vor einem Verbrechen bewahrt werde. Antwort der Autorin: „Ich finde nein.“

Fest steht, dass nicht wenige Kinder, die zu Fremden ins Auto stiegen, dafür mit ihrem Leben bezahlt haben. Fest steht auch, dass es freundliche Fremde gibt und Fremde, die Böses im Schild führen, und dass man beide leider nicht auf den ersten Blick unterscheiden kann. Fest steht auch, dass „Misstrauen“ etwas anderes ist als „Feindlichkeit“. Ein Geschöpf ohne Misstrauen war die Dronte, ein flugunfähiger Großvogel, er wurde, als er auf Menschen traf, schnell ausgerottet.

Eher mag ein Kind sterben, meint die Autorin

Die meisten Fälle von Kindesmissbrauch kommen in Familie und Bekanntenkreis vor, stimmt. Aber würde man es ablehnen, Flugzeuge sicherer zu machen, weil doch das Autofahren bei weitem gefährlicher ist?

Ach, im Grunde mag ich die Thesen von Luise Strothmann gar nicht diskutieren, sie sind zu weltfremd. Die letzte Dronte hätte so einen Text schreiben können. Warum befasse ich mich trotzdem damit? Weil er etwas über unsere Gesellschaft aussagt.

Ein Kennzeichen des Totalitarismus besteht darin, dass er einen Wert über alle anderen stellt und zum alleinigen Kompass macht. Zum Beispiel: Deutschland über alles! Oder: Die Partei hat immer Recht! Oder: Die Religion über alles! Und dafür geht man oft über Leichen. Hier hat man es auch mit einer Art Totalitarismus zu tun, die Antwort auf die Frage des Freundes beweist es. Eher mag ein Kind sterben, denkt die Autorin, als dass ich meinen heiligen Prinzipien untreu werde.

Wenn die Pragmatiker verschwinden, wird es meistens gefährlich. Ein Pragmatiker würde sagen: Fremdenfeindlichkeit ist schlecht, aber ein Quantum Misstrauen muss sein. Ich hoffe, dass dieses Land in der Hand von Pragmatikern bleibt.

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