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Aktivisten in den USA stürzen eine Kolumbus-Statue.

© imago images/ZUMA Wire

Harald Martenstein über einen Zug der Zeit: Das liberale Wertesystem landet gerade auf dem Sperrmüll

Gestürzte Statuen, nicht gedruckte Artikel, Unvoreingenommenheit von Journalisten - unser Kolumnist macht sich Gedanken über die illiberale Hygienearbeit.

Zurzeit passieren Dinge auf der Welt, die ich bis vor ein paar Jahren für unmöglich gehalten hätte. Nie hätte ich gedacht, dass in der besten Zeitung der USA, der „New York Times“, ein Redakteur gefeuert wird, weil er, um zu informieren, auch mal eine Meinung aus dem Trump-Lager abdruckt.

Die gleiche Zeitung hat 1931 immerhin ein Hitler-Interview und kürzlich den Meinungsbeitrag eines Taliban gedruckt. Ich würde gern alle drei Texte lesen.

Nie hätte ich gedacht, dass im „Spiegel“ einmal darüber diskutiert wird, ob Unvoreingenommenheit bei Journalisten eine Tugend sei oder eher ein Defizit. Der „richtige Klassenstandpunkt“ feiert unter neuem Namen Auferstehung.

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Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass in Virginia eine Statue des Seefahrers Christoph Kolumbus gestürzt wird. Falls Kolumbus, gestorben 1506, wirklich für alles mitverantwortlich ist, was Jahrhunderte nach seiner Landung in Amerika passierte, dann doch wohl auch für das Gute, nicht nur das Schlimme. Also auch für die beliebte Stadt New York, für Abraham Lincoln oder den Kampf gegen Hitler.

Genauso wenig hätte ich es für möglich gehalten, dass eine Berliner Demonstration „Für die Versammlungsfreiheit“ verboten wird, weil 5000 angekündigte Teilnehmer aus Hygienegründen zu viele seien. Eine antirassistische Großdemonstration mit 15 000 Personen aber findet nur wenig später statt, obwohl sich dort viele nicht um Hygienevorschriften scheren.

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Die andere Seite hören

Das liberale Wertesystem landet gerade auf dem Sperrmüll, Ideen wie: gleiches Recht für alle. Man muss in Debatten immer auch die andere Seite hören. Es ist okay, friedlich für politische Veränderungen einzutreten. Schuld ist konkret und individuell, nicht ganze Menschengruppen können kollektiv schuldig sein, weder Weiße noch Juden noch Russen noch sonst wer.

Unteilbar-Demonstration gegen Rassismus, Ungerechtigkeit und Antisemitismus in Berlin am 14. Juni.
Unteilbar-Demonstration gegen Rassismus, Ungerechtigkeit und Antisemitismus in Berlin am 14. Juni.

© imago images/Emmanuele Contini

Es ist verboten, Zitate aus dem Zusammenhang zu reißen, um jemanden gezielt fertigzumachen. Mich wundert, dass dieses liberale, liebenswerte System vielerorts fast ohne Widerstand zusammenzubrechen scheint, wie das alte Rom.

Viele haben Angst, klar. Mir ist, als hätten die Aktivisten schon die Macht übernommen, obwohl das natürlich nicht stimmt, sie sind in der Minderheit, das waren Revolutionäre oft. Das Tragische an Revolutionen ist, dass fast nie die Unterdrückten an die Macht kommen, sondern meistens ihre selbst ernannten Repräsentanten, die Aktivisten.

Ich frage mich, was die Bilderstürmer und Umbenenner mit der Kantstraße vorhaben, wenn sie erst mal entdecken, dass der große Aufklärer, wie fast alle seine Zeitgenossen, nicht frei von Rassismus war. Die Vergangenheit ist durchweg unsauber, es bleibt viel Hygienearbeit zu tun.

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