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Ein mit ihrer Familie vertriebenes Mädchen sitzt außerhalb einer provisorischen Unterkunft in Kabul.

© Rahmat Gul/AP/dpa

Hälfte der afghanischen Bevölkerung von Hunger bedroht: „Wir befinden uns in einem Countdown zur Katastrophe“

Die humanitäre Situation in Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme der Taliban enorm verschlechtert. Der Winter treibt den Hunger auf Rekordwerte.

Die ohnehin große Not in Afghanistan, vor allem der Hunger, nimmt drastisch zu. Eine Rekordzahl von 22,8 Millionen Menschen im Land wird ab November nicht ausreichend zu essen haben. So steht es in einem Bericht über die Ernährungslage in Afghanistan, den das UN-Welternährungsprogramm (WFP) und die UN-Ernährungs- und Landwirtschafsorganisation (FAO) am Montag veröffentlicht haben. Die Rekordzahl bedeutet, dass mehr als die Hälfe der Bevölkerung in den Wintermonaten zwischen November und März, der Zeit zwischen den Ernten, akuten Hunger leiden könnte. Der Hunger erreicht das Niveau des Jemen oder des Südsudans.   

„Es ist dringend erforderlich, dass wir unsere Hilfe in Afghanistan effizient und effektiv ausweiten und beschleunigen, bevor der Winter einen großen Teil des Landes abschneidet und Millionen von Menschen – darunter Bauern, Frauen, Kleinkinder und ältere Menschen – im eisigen Winter hungern müssen“, sagte QU Dongyu, Generaldirektor der FAO am Montag. „Afghanistan ist nun eine der schlimmsten humanitären Krisen der Welt – wenn nicht sogar die schlimmste – und die Ernährungssicherheit ist einfach zusammengebrochen“, sagte David Beasley, Exekutivdirektor des WFP. 

„In diesem Winter werden Millionen Afghanen gezwungen sein, zwischen Migration und Hunger zu wählen, wenn wir unsere lebensrettende Hilfe nicht verstärken können und die Wirtschaft nicht wiederbelebt werden kann. Wir befinden uns auf einem Countdown zur Katastrophe“, so Beasley weiter.  

Auch in den Städten verschlechtert sich die Situation  

Von akutem Hunger ist die Rede, wenn die Menschen zum Beispiel mit nur einer Mahlzeit am Tag auskommen müssen oder preiswerte Speisen essen, die zwar kurzfristig satt machen, aber keinerlei Nährstoffe enthalten. Den Informationen von WFP und FAO sind davon Menschen in allen Landesteilen, ob auf dem Land oder in den Städten betroffen. Zum ersten Mal überhaupt leide die städtische Bevölkerung in ähnlichem Maße unter Hunger wie ländliche Gemeinden, berichtet das WFP.  Auch die Mittelschicht des Landes rutscht immer weiter ab.   

Frauen verlassen eine Verteilungsstelle des Welternährungsprogramm WFP am Stadtrand mit Lebensmittelrationen. Die Rationen bestehen aus Weizenmehl, Erbsen, Öl und Salz für jede Familie.
Frauen verlassen eine Verteilungsstelle des Welternährungsprogramm WFP am Stadtrand mit Lebensmittelrationen. Die Rationen bestehen aus Weizenmehl, Erbsen, Öl und Salz für jede Familie.

© Marco Di Lauro/World Food Programm WFP/dpa

Die Gründe für die eskalierende Hungerkrise sind vielfältig. Schon vor der Machtübernahme der Taliban litten 14 Millionen Menschen in Afghanistan unter Hunger, zuletzt zählte das WFP fast 19 Millionen Menschen. Wichtige Gründe hierfür lagen auch in klimatischen Ereignissen. Weite Teile Afghanistans waren zuletzt von der zweiten Dürre innerhalb eines Jahres betroffen. Die Wasserknappheit hatte massive Auswirkungen auf die Landwirtschaft, die den Bauern das geerntete Getreide regelrecht zwischen den Fingern zerbröseln ließ. Auch das Trinkwasser wurde knapp.   

Bargeld ist knapp, die Währung verliert an Wert, Löhne werden nicht gezahlt

Hinzu kommen der wirtschaftliche Niedergang und die Coronakrise. Die Arbeitslosigkeit im Land war schon zur Jahresmitte hoch. Seit der Machübernahme der Taliban verschlechtert sich die Lage immens. Bargeld ist knapp, die Währung verliert an Wert und selbst öffentlichen Angestellten – bislang international finanziert – werden vielfach keine Löhne mehr ausbezahlt – während die Preise für Lebensmittel bereits stark steigen. 665.000 Menschen zählen innerhalb des Landes derzeit zu Flüchtlingen. Wenige Menschen haben allerdings außerhalb des Landes Zuflucht gefunden. „Die Menschen verloren wegen der Flucht ihre Felder und mussten ihre Tiere zurücklassen“, sagte Florian Luckner vom WFP in Kabul.  

Die Wintermonate stellen Luckner und sein Personal nun vor eine weitere Herausforderung: den Zugang zu Provinzen, wenn Straßen und Pässe teils unpassierbar werden. Das WFP, immerhin seit 1963 im Land, zeigt sich vorbereitet. Lebensmittel werden bereits vorweg in die Region gebracht, die im Winter schwer zugänglich sind, um sie nicht umständlich einfliegen zu müssen. „Wichtig ist nun, dass die Zusagen der Geberländer bald in Überweisungen umgemünzt werden. Gerade mit Blick auf den Winter ist es wichtig, dass das WFP nun planen und Hilfe leisten kann“, sagt Martin Rentsch, Pressesprecher der Organisation, dem Tagesspiegel. Erst 45 Prozent der 606 Millionen US-Dollar, die bis Ende des Jahres benötigt werden, sind bislang eingegangen.  

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