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Welche Rolle spielen die Deutschen in der Europäischen Union? Und welche Bedeutung hat die europäische Integration für Deutschland?

©  Getty Images/iStockphoto

Günther Oettinger im Interview: „Die Groko wird ihren Zusagen nicht gerecht“

Ex-Kommissar Günther Oettinger fordert in einem Interview mit Hamburger Masterstudierenden einen höheren deutschen Beitrag zum EU-Haushalt.

[Der Text erschien zuerst in der gedruckten Beilage "Deutschland in Europa", einem Projekt mit Masterstudierenden der Universität Hamburg]

Sie waren jetzt fast ein Jahrzehnt als EU-Kommissar in Brüssel: Sind Sie nach einer so langen Zeit im Maschinenraum der EU noch derselbe Günther Oettinger?

Hoffentlich nicht, wäre ja schlimm, wenn ich in den zehn Jahren nicht dazugelernt hätte. Ich habe meine Überzeugung für Europa gefestigt und Stärken und Schwächen erkannt, die ich vorher nicht gesehen habe. Für mich ist vor allem klar geworden: Mehr als noch 2010 leben wir heute in einem internationalen Wettbewerb zwischen Werteordnungen.

Günther Oettinger, 66, war von 2005 bis 2010 Ministerpräsident in Baden-Württemberg. Anschließend ging der CDU-Politiker bis Ende 2019 als EU-Kommissar nach Brüssel. Dort leitete er zuletzt das Ressort Haushaltspolitik.
Günther Oettinger, 66, war von 2005 bis 2010 Ministerpräsident in Baden-Württemberg. Anschließend ging der CDU-Politiker bis Ende 2019 als EU-Kommissar nach Brüssel. Dort leitete er zuletzt das Ressort Haushaltspolitik.

© UHH/Richard Ohme

In Ihren letzten Monaten als EU-Haushaltskommissar wollten Sie eigentlich die mittelfristige Finanzplanung für die Jahre 2021 bis 2027 durchs Parlament bekommen, aber das hat nicht geklappt.

Leider entscheiden wir wieder zu spät, aber der Rat war nicht bereit, die Finanzplanung schon 2019 zu einer Priorität zu machen. Wir werden jetzt irgendwann in 2020 fertig werden, und dann wird 2021 wieder ein verlorenes Jahr. Wenn erst einmal ein Haushaltsrahmen steht, brauchen Sie in der Strukturhilfe Abkommen zwischen der EU-Kommission und den einzelnen Regionen. Das dauert ein Jahr. Und klar ist: Die von Ursula von der Leyen angekündigten Maßnahmen verlangen Milliarden. Ich bin gespannt, ob Deutschland als größtes Mitgliedsland dafür mehr Mittel bereitstellt.

Hat auch Berlin die Verhandlungen zur mehrjährigen Finanzplanung ausgebremst?

Ja, ich sehe das kritisch. Diese große Koalition hat einen Koalitionsvertrag mit dem Titel „Neuer Aufbruch für Europa“ und da steht: „Im Lichte der Brexit-Lücke und wegen neuer Aufgaben sind wir bereit, mehr einzuzahlen.“ Das heißt ja wohl nicht, nur sieben Jahre Inflation auszugleichen, sondern auch real mehr Geld bereitzustellen. Bisher wird die große Koalition ihren gemachten Zusagen noch nicht gerecht.

"Die von Ursula von der Leyen angekündigten Maßnahmen verlangen Milliarden. Ich bin gespannt, ob Deutschland als größtes Mitgliedsland dafür mehr Mittel bereitstellt".
"Die von Ursula von der Leyen angekündigten Maßnahmen verlangen Milliarden. Ich bin gespannt, ob Deutschland als größtes Mitgliedsland dafür mehr Mittel bereitstellt".

© UHH/Richard Ohme

Mittelfristig möchte die EU-Kommission die Strukturhilfen für abgehängte Regionen kürzen. Spielt das nicht Populisten in die Hände?

Es gibt eine finanzielle Brexit-Lücke im Haushalt und man braucht am Ende Einstimmigkeit unter 27 Staats- und Regierungschefs. Ohne Kürzungen wird es nicht gehen. Ich habe maßvoll Ausgaben gekürzt, nicht aus Abneigung dem Programm gegenüber: Aber wenn ein reicher Onkel geht, dann wird man die Zahl der Geschenke unter dem Weihnachtsbaum verringern müssen.

Der EU wird oft ein Demokratiedefizit nachgesagt. Wie sinnvoll war es, Ursula von der Leyen zur Kommissionschefin zu machen, obwohl sie nie als Spitzenkandidatin zur Wahl stand?

Das ist ein echter Malus, den man nicht ihr vorwerfen kann, sondern dem Parlament. Das hat gesagt: „Wer gewinnt, wird Kommissionschef“, aber was Gewinnen heißt, wurde nicht geklärt. Man hätte sich festlegen können: Nicht das Wahlergebnis am Wahlabend ist entscheidend, sondern, wer in Sondierungen danach auf die Unterstützung einer Mehrheit der Abgeordneten zählen kann.

"Nur, wenn Sie europäisch denken, können Sie in einem Einzelfall deutsche Argumente bringen", sagt Günther Oettinger.
"Nur, wenn Sie europäisch denken, können Sie in einem Einzelfall deutsche Argumente bringen", sagt Günther Oettinger.

© UHH/Richard Ohme

Spätestens seit der Schuldenkrise gibt es große Ressentiments gegen den deutschen Einfluss in Europa. Haben Sie als Kommissar auch deutsche Interessen vertreten?

Ich hatte nicht die alleinige Entscheidungsgewalt in meinen Bereichen. Einem Kabinett und Generaldirektor können sie zwar mal eine Weisung geben, aber nicht mit dem Kopf durch die Wand gehen. Es gibt so viele Kontrollinstanzen, dass der Egoismus eines Landes keine Chance hätte. Im Gegenteil: Nur, wenn Sie europäisch denken, können Sie in einem Einzelfall deutsche Argumente bringen.

Was war so ein Einzelfall?

Ich habe bei den CO2-Grenzwerten für Autos 2012/13 in einem demokratischen Streit mit der damaligen Klimakommissarin Connie Hedegaard für realistische Ziele gekämpft. Und da gewissen Erfolg gehabt.

Danach wurde Ihnen vorgeworfen, Sie hätten vor allem die Interessen der deutschen Autoindustrie vertreten. Inwiefern ist das die Aufgabe eines EU-Kommissars?

Als Stuttgarter bin ich mit der Autoindustrie groß geworden. Die Firmen haben ihren Sitz vielleicht in Deutschland, aber die Produktion ist längst europäisch. Ich glaube, dass ich durch die besondere, gewachsene Beziehung zu diesem Sektor auch das Recht und die Pflicht habe, die Interessen für die Arbeitsplätze in ganz Europa wahrzunehmen.

Machen Sie sich Sorgen, dass die EU vor lauter Streben nach Einstimmigkeit zwischen den beiden Polen USA und China zerrieben wird?

Die Sandwich-Gefahr ist in allen Politikbereichen sehr groß. Die Frage ist: Gestatten wir das Spiel, das die Autokraten in Moskau und Ankara lieben, das die Chinesen und Trump lieben – divide et impera, teile und herrsche? Wir müssen mit einer Stimme nach außen sprechen.

"Bisher wird die große Koalition ihren gemachten Zusagen noch nicht gerecht", sagt Günther Oettinger im Gespräch mit den Masterstudierenden Paul Meerkamp und Leon Tom Gerntke der Universität Hamburg.
"Bisher wird die große Koalition ihren gemachten Zusagen noch nicht gerecht", sagt Günther Oettinger im Gespräch mit den Masterstudierenden Paul Meerkamp und Leon Tom Gerntke der Universität Hamburg.

© UHH/Richard Ohme

Wichtige Entscheidungen in der EU-Außenpolitik brauchen Einstimmigkeit im Rat. Wenn die USA und China je einen Mitgliedstaat in der Hand haben, können sie verhindern, dass Europa jemals mit einer Stimme spricht ...

Ich glaube, die Gefahr ist erkannt. Ein Beispiel: Als der Präsident Chinas vor einigen Monaten zum Staatsbesuch nach Paris kam, hatte Macron zur Überraschung des Chinesen auch Jean-Claude Juncker und die Kanzlerin eingeladen. Wir machen Fortschritte darin, gemeinsam nach außen aufzutreten. Der Gipfel zwischen China und der EU in Leipzig kann dies im Herbst beweisen.

Wo hat Europa noch Schwächen?

Wir müssen schneller werden. Ich liebe Europa, aber ich kenne unsere Abläufe. Da gibt’s erst mal eine Studie, ein Weißbuch, eine Stellungnahme der Kommission ... Der Ministerrat tagt dann vielleicht sechs, sieben Mal im Jahr für einen halben Tag. Jedes Mal kommen andere nationalen Vertreter. So kannst du Europa auf Dauer nicht regieren.

Was schlagen Sie vor?

Demokratie ja, gründlich, aber schneller. Eigentlich müsste Brüssel der zweite Arbeitsplatz jedes nationalen Ministers neben seiner Hauptstadt sein. Ich würde erwarten, dass sich jeder Ministerrat einmal im Monat zumindest für zwei Tage trifft. Damit kann die Geschwindigkeit bei der Entscheidungsfindung erhöht werden. Gerade im digitalen Zeitalter: Wenn du in der digitalen Sphäre Dinge regulieren willst und es dauert drei Jahre, ist die Technik nach drei Jahren wieder auf einem anderen Niveau.

Im Digitalbereich hat Europa bisher wenige Global Player im Angebot. Suchmaschinen, soziale Netzwerke, so was kommt aus anderen Ländern. Wie groß ist die Gefahr, dass die EU digital abgehängt wird?

Wir sind schon abgehängt. In der Automatisierung der Industrie sind wir zwar sehr weit. Aber je mehr man zum User kommt, bei Big Data oder Social Media, sind wir weit hinten.

"Unsere Infrastruktur muss besser werden, wir brauchen auch mehr IT-Spezialisten", sagt Günther Oettinger im Gespräch mit den Masterstudierenden Paul Meerkamp und Leon Tom Gerntke der Universität Hamburg.
"Unsere Infrastruktur muss besser werden, wir brauchen auch mehr IT-Spezialisten", sagt Günther Oettinger im Gespräch mit den Masterstudierenden Paul Meerkamp und Leon Tom Gerntke der Universität Hamburg.

© UHH/Richard Ohme

Was muss sich hier verändern?

Unsere Infrastruktur muss besser werden, wir brauchen auch mehr IT-Spezialisten. Und wir brauchen die Vollendung des digitalen Binnenmarktes, der Digital-Union. Die Marktgröße ist entscheidend. Die Datenschutzgrundverordnung, die man im Detail kritisieren kann, ist da ein großer Fortschritt.

Was halten Sie von einem digitalen Champion, einem Zusammenschluss europäischer Unternehmen wie damals zum Flugzeughersteller Airbus?

Unsere Telekomunternehmen hätten das Zeug dazu. Ohne jetzt die Kollegin Vestager kritisieren zu wollen, es geht um die Marktdefinition: Wollen wir viele Wettbewerber auf dem europäischen Markt oder einige invasive Player? Dann müsste man Zusammenschlüsse eher akzeptieren.

Da müsste das Kartellrecht ein Auge zudrücken können?

Es geht um die Definition des relevanten Marktes durch die zuständige Behörde. In dem Fall die europäische Wettbewerbsbehörde.

Seit Dezember sind Sie nicht mehr EU-Kommissar. Was sind Ihre Pläne für den anstehenden Ruhestand?

Ich bin gesund und motiviert, um jetzt in der Privatwirtschaft noch mal durchzustarten. Ich bin Rechtsanwalt und war Geschäftsführer einer Wirtschaftsprüfung. Ich will in den beratenden Beruf zurück.

Ex-EU-Kommissar Günther Oettinger im Gespräch mit Paul Meerkamp und Leon Tom Gerntke, Masterstudierende der Universität Hambug.
Ex-EU-Kommissar Günther Oettinger im Gespräch mit Paul Meerkamp und Leon Tom Gerntke, Masterstudierende der Universität Hambug.

© UHH/Richard Ohme

Für Sie gelten als Ex-Kommissar eine Karenzzeit und ethische Regeln. Das heißt, Sie werden in den nächsten Jahren weder Autolobbypräsident noch Digitalbranchenvertreter?

Ich habe bei Digitalem, bei Personal und Haushalt Zurückhaltung zu üben. Ansonsten gibt es keine Berufsverbote. Ich will nicht Lobbyist in Brüssel werden, aber ich will weiter arbeiten.

Sie hatten sich mal für die Direktwahl des Kommissionspräsidenten eingesetzt. Was muss passieren, damit unsere Kinder 2050 in einem europäischen Bundesstaat leben?

Europa wird immer, wenn es unter Druck ist, stärker. Wenn wir die Welt mitgestalten wollen, dann geht das nur im europäischen Team. Das werden immer mehr Wähler und Regierende erkennen. Ich kann nur hoffen, dass die europäische Vision nicht alleine von Macron definiert wird. Auch Deutschland sollte, so wie es im Koalitionsvertrag steht, einen neuen Aufbruch für Europa wagen.

Sie sind also trotz fast zehn Jahren in Brüssel noch optimistisch?

Nicht trotzdem, sondern gerade deswegen.

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