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Die Grünen-Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck beim Grundsatzkonvent.

© Michael Kappeler/dpa

Grundsatzprogramm der Grünen: Liebe alle!

Die Grünen können fast mit jedem über alles reden. Die neue Devise der früheren Ökopartei heißt: Bloß nichts ver- und möglichst viel anbieten. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Cordula Eubel

Lange hatten die Grünen bei der Ökologie und beim Klimaschutz ein Alleinstellungsmerkmal. Nun wollen sie dieses aufgeben, raus aus der Nische, nicht mehr diejenigen sein, die sich als einzige um das Thema kümmern. Offensiv preisen sich die Grünen unter ihrem Führungsduo Annalena Baerbock und Robert Habeck als „Bündnispartei“ an. Dahinter steckt die schlichte Erkenntnis, dass eine Partei allein die Erderwärmung nicht wird aufhalten können, selbst wenn sie in Umfragen mittlerweile auf bis zu 20 Prozent kommt.

Hinter dem Begriff der Bündnispartei verbirgt sich zweierlei: Die Grünen sind bereit, auch im Bund die unterschiedlichsten Regierungskoalitionen einzugehen, so wie sie es schon seit einer Weile in den Ländern praktizieren. Sie versuchen aber auch, im Kampf gegen den Klimawandel Verbündete zu finden, die ihnen bisher nicht besonders nahestanden – vom Industrieverband BDI bis zur Gewerkschaft IG BCE, deren Vertreter lautstark gegen den Kohleausstieg protestieren.

Bei der Suche nach neuen Mehrheiten erhalten die Grünen derzeit Rückenwind von den Schülerinnen und Schülern, die freitags europaweit auf die Straße gehen, um für mehr Klimaschutz zu demonstrieren. Die Entschlossenheit dieser Bewegung hat nochmal einen anderen Schwung in die Debatte gebracht als das Erschrecken über den Dürresommer 2018.

Doch während die Grünen sich einladend geben wie nie zuvor, verschärfen andere im politischen Spektrum die Tonlage. Die Ökodebatte wird wieder mit einer Vehemenz geführt wie lange nicht mehr, der Streit mit ideologischen Begriffen angeheizt. Es sind nicht nur AfD-Politiker, die zu drastischen Worten greifen, wenn sie den Klimawandel leugnen.

FDP-Chef Christian Lindner ruft den „Kulturkampf“ ums Auto aus und warnt vor der „drohenden Enthauptung“ der Autoindustrie. Und auch CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer kann der Versuchung nicht wiederstehen, alte Feindbilder an die Wand zu malen. Ein Tempolimit auf Autobahnen? Man solle Autofahrer nicht „quälen und bestrafen“. Weniger Fleisch essen?  Veganer wollten anderen Menschen das Leben „zur Hölle“ machen.

Die Schärfe, mit der die Auseinandersetzung geführt wird, ist für die Grünen zwiespältig. Einerseits nutzt sie der Partei, weil sie von der Polarisierung profitiert. Doch zugleich müssen die Grünen ein Interesse daran haben, die Debatte wieder zu versachlichen, wenn sie Mehrheiten für eine andere Klima- und Umweltpolitik gewinnen wollen.

Der Veggie Day als Trauma

Im ersten Aufschlag zum Grundsatzprogramm, den die Parteiführung vorgelegt hat, steckt ein klares Signal an potenzielle Partner: Es gebe „planetare Grenzen“, stellen die Grünen fest, beim Klima ebenso wie bei der Artenvielfalt. Und diese müssten den Rahmen für die Politik vorgeben. Konkrete Vorschläge, wie das funktionieren kann, liefern sie mit, angefangen bei einem Preis für das klimaschädliche Treibhausgas CO2 bis zur Einführung von Klimazöllen zum Schutz von heimischen Unternehmen. Sie machen zugleich deutlich, dass sie auf dem Weg zu mehr Klimaschutz kompromissbereit sind – zumindest bei den Instrumenten.

Auffällig ist, dass die Grünen Weltuntergangstöne vermeiden, sie wollen Optimismus ausstrahlen. „Veränderung in Zuversicht“ ist der Zwischenbericht überschrieben, es klingt ein wenig nach Kirchentag. Sie verweisen auf die Erfolge der Umweltbewegung, unter anderem darauf, dass im Rhein wieder Lachse schwimmen. Im Werbespot der Grünen für die Bundestagswahl 1980 hatte die Enkelin ihren Opa noch gefragt, warum alle Fische tot seien. “Weil die Industrie das Rheinwasser vergiftet hat”, antwortete der damals. Heute sagt Parteichef Habeck, er wolle nicht in  apokalyptischen Szenarien denken. Politik kann etwas ausrichten, lautet seine Botschaft.

Der Versuch der Grünen, anschlussfähig in alle Richtungen zu werden, hat allerdings auch einen Preis. Als die Partei 2013 mit der Forderung nach einem fleischfreien Tag pro Woche in öffentlichen Kantinen in den Bundestagswahlkampf zog, schadete ihr das massiv. Das Image der Verbotspartei wurde sie so schnell nicht mehr los, der Veggie Day wurde zum Trauma. In der Partei herrscht seitdem Einigkeit, dass man sich zuallererst darauf konzentrieren müsse, die Strukturen zu ändern – von der Massentierhaltung bis zur Besteuerung von Flugbenzin.

Es ist verständlich, dass die Grünen Lebensstilfragen nicht mehr zum Thema machen wollen. Wer möglichst viele mitnehmen will, darf nicht anecken. Ganz ehrlich ist es allerdings nicht. Beim Eindämmen des Klimawandels bewirken Strukturveränderungen sicher mehr, als beim Verhalten des einzelnen anzusetzen.

Das heißt aber nicht, dass die individuelle Lebensweise egal ist. Im Gegenteil: Je mehr Menschen beschließen, weniger Fleisch zu essen, das Auto öfter stehen zu lassen oder auch mal auf eine Flugreise zu verzichten, desto mehr Druck entsteht auch wieder auf die Politik, an den Strukturen etwas zu ändern. Diesen Effekt sollten die Grünen nicht unterschätzen.

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