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Einmal gescheitert – und jetzt? Ein Schotte im Herbst 2014 auf dem Weg zum Wahllokal des Unabhängigkeitsreferendums.

© Andrew Milligan/PA Wire/dpa

Großbritannien tritt aus der EU aus: „Schottland wird unabhängig“

Der Labour-Abgeordnete Ben Bradshaw sieht angesichts des Brexits Umbrüche auf Großbritannien zukommen. Das betrifft die eigene Partei, aber auch Schottland.

Die Labour Party hat bei der britischen Parlamentswahl im Dezember die bitterste Niederlage seit 1935 erlitten. Dem Labour-Abgeordneten Ben Bradshaw gelang es, seinen Wahlkreis in Exeter im Südwesten Englands zu verteidigen. Nach der Ansicht von Bradshaw geht die Wahlschlappe seiner Partei vor allem auf das Konto des Noch-Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Vor seiner Karriere als Politiker wurde Bradshaw in Großbritannien als Journalist bekannt. Für die BBC berichtete er über den Mauerfall in Berlin.

Der Labour-Abgeordnete Ben Bradshaw.
Der Labour-Abgeordnete Ben Bradshaw.

© imago images/Mary Evans

Herr Bradshaw, wie sehr schmerzt es Sie, dass Großbritannien die EU zum 31. Januar verlassen wird?
Das ist ist nicht nur für mich, sondern für viele hier extrem schmerzhaft. Ich würde sogar sagen, dass es für die Bevölkerung schmerzhaft ist, die laut Meinungsumfragen mehrheitlich die EU nicht verlassen will. Das britische Mehrheitswahlsystem und das verheerende Versagen der Labour-Führungsriege unter Jeremy Corbyn haben zu einem Sieg der konservativen Regierung unter Boris Johnson geführt, obwohl er gerade etwas mehr als 40 Prozent der Stimmen erreichte.

Aber so beklagenswert das ist, müssen wir jetzt dafür sorgen, dass der Brexit möglichst wenig Schaden anrichtet. Die Labour Party wird unter einer neuen Führung hoffentlich eine wirkungsvollere Opposition darstellen als bisher. Denn es wird sich für die Regierung rächen, dass zahlreiche Fragen, die seit dem EU-Referendum von 2016 offen geblieben sind, jetzt sehr schnell geklärt werden müssen.

Man könnte argumentieren, dass Premierminister Johnson sein Versprechen eingehalten hat, den Brexit über die Bühne zu bringen.
Nein. Zunächst sind wir ja noch bis Ende Januar EU-Mitglied. Aber der Austritt ist erst der Beginn eines Prozesses. Nach dem Austritt müssen wir in einer Übergangsphase, die viel zu kurz ist, über ein Freihandelsabkommen verhandeln. Niemand glaubt ernsthaft, dass dies innerhalb von elf Monaten bis Ende des Jahres zu schaffen ist. Ich gehe davon aus, dass wir in diesem Jahr genau dieselbe Krise um einen möglichen No-Deal-Brexit erleben werden, mit der wir im vergangenen Jahr konfrontiert waren.

Johnson und die Regierung werden sich entscheiden müssen, ob sie eine Verständigung mit der EU erreichen oder ob sie auf einen Deal verzichten wollen. Letzteres würde den Ruin der britischen Wirtschaft und die unvermeidliche Auflösung des Vereinigten Königreichs bedeuten. Die Regierung hat in den zurückliegenden dreieinhalb Jahren die Entscheidung über diese Schlüsselfrage gescheut. Aber jetzt müssen die Tories sagen, wie sie sich die Zukunft für das Land vorstellen.

Schottland könnte das Vereinigte Königreich verlassen, wenn Großbritannien künftig nicht eng an die EU angebunden bleibt?
Das wird so oder so passieren. Ich habe überhaupt keine Zweifel, dass Schottland unabhängig werden wird. Es ist völlig unhaltbar, dass die Regierung in London den Schotten das Recht auf Selbstbestimmung verweigert. Die Schotten haben beim EU-Referendum von 2016 und bei den zwei folgenden Unterhauswahlen zum Ausdruck gebracht, dass sie die EU nicht verlassen wollen. Man muss verstehen, dass das Vereinigte Königreich auf dem Einverständnis aller Landesteile basiert.

Die politische Klasse in England – und das schließt meine eigene Partei ein – muss sehr schnell das Recht der Schotten auf Selbstbestimmung anerkennen. Ich bin mit einem Schotten verheiratet. Sämtliche Mitglieder unserer Familie in Schottland haben beim Referendum von 2014 gegen die Unabhängigkeit gestimmt. Aber bei der letzten Unterhauswahl im Dezember haben alle von ihnen zum ersten Mal in ihrem Leben der schottischen Nationalpartei ihre Stimme gegeben. Und sie würden jetzt alle anders als 2014 für die Unabhängigkeit Schottlands stimmen. Schottland wird unabhängig werden. Das steht für mich hundertprozentig fest.

Kommen wir zur Zukunft Ihrer Partei. Wie bewerten Sie die Rolle des noch amtierenden Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn?
Er hat nicht nur die krachende Niederlage der Labour Party im Dezember zu verantworten. Es ist auch Jeremy Corbyn zuzuschreiben, dass das EU-Referendum von 2016 verloren ging. Mitten in der Referendumskampagne verabschiedete er sich damals für zwei Wochen in den Urlaub. Er setzte sich seinerzeit nicht voll für den Verbleib in der EU ein. Aber das ist alles Schnee von gestern.

Der Grund, warum viele Leute der Labour Party diesmal nicht die Stimme gegeben haben, besteht darin, dass sie Corbyn nicht vertraut haben. Daran besteht kein Zweifel. Aber unter einer neuen Führung haben wir jetzt die Möglichkeit, die Partei wieder neu aufzubauen. Wir haben sogar die Chance, die nächste Wahl zu gewinnen, wenn sich erst einmal herausgestellt hat, dass der Brexit überhaupt keine Erfolgsgeschichte ist.

Noch bis April ist Jeremy Corbyn als Labour-Vorsitzender im Amt.
Noch bis April ist Jeremy Corbyn als Labour-Vorsitzender im Amt.

© imago images/ZUMA Press

Nach der Parlamentswahl gab es Kritik daran, dass die linken Corbyn-Jünger in der Momentum-Bewegung die Labour Party komplett vereinnahmt haben.
Das trifft nicht zu. Jeremy Corbyn hat sich zwar zweimal bei einer parteiinternen Abstimmung dank der Unterstützung der Parteimitglieder durchgesetzt. Aber ich würde nicht alle Leute, die für ihn gestimmt haben, über einen Kamm scheren. Es ist wahr, dass die harte Linke die Kontrolle über das Führungsgremium der Partei übernommen hat. Aber die große Mehrheit der Labour-Unterhausfraktion ist vernünftig, und das gilt auch für die meisten Labour-Stadträte im Land. Man sollte also nicht den Willen der Parteimitglieder unterschätzen, nach vier sehr schmerzlichen Niederlagen in Folge jetzt jemanden an die Spitze zu bringen, der tatsächlich eine Wahl gewinnen könnte.

Sie unterstützen den Labour-Sprecher für den Brexit, Keir Starmer, als Nachfolger von Jeremy Corbyn. Trauen Sie es Starmer zu, eines Tages Premierminister zu werden?
Möglich ist das. Um es offen zu sagen: Keiner der anderen Kandidatinnen und Kandidaten, die ins Rennen um die Nachfolge Corbyns gehen, hat eine Chance, eine Wahl zu gewinnen. Wenn man sich mit Wählern unterhält, die uns diesmal nicht die Stimme gegeben haben, dann fällt kein anderer Name als der von Keir Starmer, wenn es um die Corbyn-Nachfolge geht.

Wenn wir wieder eine wirkungsvolle Oppositionskraft werden wollen, dürfen wir uns nicht die Frage stellen, wen wir bevorzugen – sondern wen die Öffentlichkeit bevorzugt. Keir hat das Zeug, Premierminister zu werden. Die Leute können sich vorstellen, dass er auf den Stufen der Downing Street steht. Er bringt Seriosität mit. Für ihn spricht seine Erfahrung als Menschenrechtsanwalt und als Direktor der Staatsanwaltschaft, die er vor seiner Arbeit im Unterhaus sammelte. Die Labour Party hat immer breite Bevölkerungsgruppen vereint. Keir Starmer könnte diese Einheit wieder herstellen und die Grabenkämpfe der letzten Jahre überwinden.

Halten Sie es für denkbar, dass Großbritannien der EU irgendwann in der Zukunft wieder beitritt?
Alles ist denkbar. Und in der Politik sollte man sowieso niemals „nie“ sagen. Aber bedauerlicherweise steht ein Wiedereintritt in die EU kurzfristig nicht zur Debatte. Man muss einfach die gegenwärtigen Fakten in der britischen Politik zur Kenntnis nehmen. Aber wenn erst einmal die schwierigen Entscheidungen, die der Brexit mit sich bringt, auf der Tagesordnung stehen, dann wird sich auch die Debatte ändern. Das könnte irgendwann wieder zu einer Vollmitgliedschaft führen.

Aber vielleicht ändert sich auch die EU demnächst dergestalt, dass es einen harten Kern um die Euro-Länder und darum herum einen Ring von Staaten mit einer loseren Verbindung geben wird. Ich könnte mir etwa vorstellen, dass das Vereinigte Königreich einen komfortablen Platz in dieser äußeren Staatengruppe finden könnte. Um genauer zu sein: England und Wales könnten einen solchen Platz finden, weil Schottland und Nordirland gemeinsam mit Irland zum Kerneuropa gehören könnten. Aber das sind Fragen für die langfristige Zukunft.

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