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Premierminister Boris Johnson trägt Blumen zum Ort des grausamen Geschehens, der methodistischen Kirche in Leigh-on-Sea östlich von London.

© imago images/ZUMA Press

Großbritannien: Parlamentarier hinter Glaswand?

Nach dem Mord an einem Tory-Parlamentarier streitet Großbritannien über den Schutz von Politikern. Der Kontakt zu den Bürgern soll aber möglich bleiben.

Nach dem Mord an einem Unterhaus-Abgeordneten, verübt von einem Täter mit islamistischem Hintergrund, debattiert Großbritannien über die Sicherheit von Parlamentariern. In Absprache mit Speaker Lindsay Hoyle prüft Innenministerin Priti Patel mögliche Schritte zur Risikovermeidung insbesondere bei Bürgersprechstunden, die bisher ohne Einschränkung besucht werden können. Dabei solle es auch weiterhin bleiben, argumentierten beide in Medien-Interviews: „Abgeordnete müssen weiterhin zugänglich bleiben.“

Der Abgeordnete David Amess hatte am Freitag Mittag das methodistische Gemeindezentrum von Leigh-on-Sea in seinem Wahlkreis Southend (Grafschaft Essex) gerade betreten, als sich ein junger Mann aus einer Gruppe von Wartenden löste und mehr als ein Dutzend Mal auf ihn einstach. Nach zweieinhalb Stunden gaben Rettungssanitäter und der per Hubschrauber herbeigeeilte Notarzt den Kampf um das Leben des 69-Jährigen auf.

Der mutmaßliche Täter, 25, ließ sich widerstandslos festnehmen. Ersten Ermittlungen der Terror-Fahnder zufolge handelt es sich bei Ali Harbi Ali um einen Briten somalischer Abstammung. Offenbar gehört er zu jenen jungen Leuten, die durch die Internet-Propaganda von Gruppen wie Al-Shabaab, dem ostafrikanischen Al-Qaida-Ableger, radikalisiert wurden. Ali soll am umstrittenen Regierungsprogramm Prevent teilgenommen haben, das sich die Entradikalisierung von Gefährdern und Extremisten zum Ziel gesetzt hat. Beim Inlandsgeheimdienst MI5 stand er nicht auf der Gefährder-Liste.

Am Wochenende durchsuchte die Antiterror-Polizei Wohnungen von Alis Familienmitgliedern in Southend und London. Zugang zu Amess’ Bürgersprechstunde gab es nur für Ortsansässige. Der Konservative hatte dem Unterhaus insgesamt 38 Jahre angehört, seit 1997 für den Wahlkreis Southend. Der Katholik Amess hatte aus seinem tiefverwurzelten Glauben auch öffentlich nie ein Hehl gemacht. Die Ermittler gehen deshalb der Frage nach, ob dies den Täter zusätzlich motiviert haben könnte. Der örtliche Priester berichtete den Medien, er sei von Polizeibeamten am Tatort unter Verweis auf die Spurensicherung daran gehindert worden, dem Sterbenden die letzte Ölung zu geben.

"Wir müssen unsere Sicherheit ernster nehmen"

Parteiübergreifend diskutieren nun Abgeordnete, wie sich besser vor Anschlägen schützen können. „Wir müssen unsere Sicherheit ernster nehmen“, glaubt der Labour-Veteran Chris Bryant und erinnerte im „Guardian“ daran, dass erst vor seine fünf Jahren seine Fraktionskollegin Jo Cox ebenfalls auf dem Weg zu einer Bürgersprechstunde ermordet worden war.

Die Labour-Abgeordnete Diane Abbott brachte eine Plastiktrennwand ins Spiel. Der konservative Ex-Offizier Tobias Ellwood plädierte sogar für eine Aussetzung der direkten Kontakte mit den Wahlkreisbürgern. Das sei nicht die richtige Reaktion, erwiderte dessen Fraktionskollege David Davis: „Natürlich können wir besser dafür sorgen, dass nur Leute mit echten Anliegen zu uns kommen. Aber die Sprechstunden ganz zu unterbrechen oder aufzugeben, das wäre nicht in David Amess’ Sinn.“

Online-Beschimpfungen bis hin zu Morddrohungen

Vielerorts im Land demonstrierte die örtliche Polizei am Wochenende Präsenz bei Politiker-Sprechstunden. Auch bekundete die Bevölkerung Solidarität mit ihren gewählten Repräsentanten. „Vielen Dank an alle, die heute gekommen sind, auch wenn sie nur Hallo sagen wollten. Das bedeutet mir wirklich viel“, schrieb Robert Largan auf Twitter.

Schon in den vergangenen Jahren wurden Wahlkreisbüros und Privathäuser von Abgeordneten zusätzlich gesichert, das Personal zu erhöhter Vorsicht aufgerufen. Der routinemässige Schutz bei zuvor angekündigten Terminen durch Polizeibeamte oder einen privaten Sicherheitsdienst auf Staatskosten gehört zu den Maßnahmen, die jetzt diskutiert werden. Innenministerin Patel wies auch auf die Flut von Online-Beschimpfungen bis hin zu Morddrohungen hin, denen Abgeordnete dauernd ausgesetzt sind. Sie erwägt deshalb klarere Vorschriften für Internet-Firmen wie Facebook und Twitter. Besonders gegen anonyme Accounts müsse gezielter vorgegangen werden.

Wie in anderen Demokratien beschweren sich auch britische Abgeordnete seit vielen Jahren über die Haltung der Betreiber von hochlukrativen sogenannten sozialen Medien. Immer wieder kämen Kolleginnen und Kollegen mit schlimmen Beispielen zu ihm, berichtete der Chef des Medienausschusses, Julian Knight. „Aber Facebook nimmt das nicht ernst.“

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