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Nigel Farage zeigte sich für seine Brexit-Partei schon bei der Stimmabgabe optimistisch.

© AFP/Ben Stansall

Großbritannien: Nigel Farage treibt die Torys vor sich her

Der Erfolg von Farages Brexit-Partei in Großbritannien vertieft die Krise der Torys – und dürfte den Drang nach einem EU-Austritt ohne Vertrag verstärken.

Noch ehe das Ergebnis der Europawahl für die Torys feststand, fasste der frühere Vize-Premier Damian Green am Sonntag die Lage in Großbritannien dramatisch zusammen: „Die Zukunft der konservativen Partei steht auf dem Spiel.“ Der Politiker vom liberalen Flügel hatte vor allem die harten Brexiteers im Visier, die sich im Kampf um die Nachfolge von Premierministerin Theresa May die Maximalforderungen um die Ohren schlagen. Das erst spätabends verkündete Ergebnis der Europawahl dürfte den Drang nach einem chaotischen EU-Austritt ohne Vereinbarung („No Deal“) noch verstärken.

Denn allen Umfragen zufolge hat der Nationalpopulist Nigel Farage beim Wahlgang am Donnerstag mit seiner erst wenige Monate alten Brexit-Party mehr als 30 Prozent und damit eine Sensation geschafft. Wie vor fünf Jahren mit Ukip (27,4 Prozent) dürften die EU-Feinde bei der Europawahl auch diesmal Platz eins belegen. Farage, 55, wollte dies als Plebiszit für „No Deal“ interpretieren und damit das Unterhaus unter Druck setzen.

Der einstige Konservative will vor allem seine frühere Partei vor sich hertreiben. Dass der damalige Premier David Cameron (2010–16) überhaupt das EU-Referendum versprach, lag nicht zuletzt am Höhenflug von Ukip unter Farage. Camerons Nachfolgerin bezeichnete er in den vergangenen Wochen stets als „vorsätzlich heuchlerische“ Verräterin an der Brexit-Sache und heimste damit auf den straff organisierten Kundgebungen seiner neuen Ein-Mann-Partei landesweit riesigen Beifall ein. Zwar hat Mays angekündigter Rücktritt den Brexit-Ultra seiner Lieblingsfeindin beraubt; doch schon am Freitag machte Farage deutlich, dass er die Torys weiter vor sich hertreiben will. Nach zwei pro-europäischen Chefs müssten die Torys nun einen Brexiteer wählen: „Sonst ist die Partei erledigt.“

Das wäre Farage und seiner disparaten Truppe aus reaktionären Ex-Torys wie Ann Widdecombe und Mitgliedern der Revolutionären Kommunistischen Partei wie Claire Fox ganz recht. Plant er doch im achten Anlauf ein Mandat im Unterhaus zu holen. Dafür müsste sich das Parlament allerdings selbst auflösen, was angesichts der derzeitigen Umfrageergebnisse wenig wahrscheinlich ist.

Denn die Brexit-Krise hat nicht nur die Torys bis ins Mark erschüttert, auch die größte Oppositionspartei Labour erwartete von der Europawahl „eine ordentliche Abreibung“, wie Finanzsprecher John McDonnell einräumte. In Scharen sind treue Anhänger der alten Arbeiterpartei zu Liberaldemokraten und Grünen übergelaufen; die beiden kleineren Parteien wollen durch ein zweites Referendum den EU-Verbleib erzwingen. Hingegen blieb Labours Vorgehen unklar. Das liegt an der EU-Skepsis des Vorsitzenden Jeremy Corbyn, dem die Ergebnisse am Sonntag den 70.Geburtstag vermiesten.

Schon spricht McDonnell davon, seine Partei müsse „neu darüber sprechen, wie wir uns zu einem öffentlichen Votum verhalten“ – eine chiffrierte Aufforderung zur Kursänderung hin auf das zweite Referendum, das Partei-Vize Tom Watson längst lautstark fordert.

Vom Abschneiden der proeuropäischen Parteien – zu ihnen zählen auch die schottischen und walisischen Nationalisten sowie die neue Gruppierung Change UK – und der Wahlbeteiligung hängt die Interpretation des Ergebnisses ab. Europawahlen wurden auf der Insel nie ernst genommen, beim letzten Mal wählten nur 34,2 Prozent der Briten (Nordirland wird separat berechnet). Diesmal meldeten eine Reihe von eher proeuropäischen Wahlkreisen Quoten von bis zu 40 Prozent, was der Wucht der Brexit-Party etwas Schwung nehmen könnte.

Boris Johnson will im Oktober aus der EU ausscheiden - mit oder ohne Deal

Dennoch scheinen sich viele der Bewerber um die May-Nachfolge die wichtigste, ja einzige Forderung von Farages Gruppierung zu eigen zu machen. Acht erklärte Kandidaten gibt es bisher, mindestens vier weitere dürften noch hinzukommen. Und begeisterte Brexiteers wie Esther McVey, Dominic Raab oder Andrea Leadsom haben auf mehr oder weniger deutliche Weise wiederholt, was der klare Favorit im Rennen, Boris Johnson, schon am Freitag als Parole vorgegeben hatte. Das prominenteste Gesicht der Brexit-Kampagne vor drei Jahren nutzte einen hochbezahlten Auftritt beim Swiss Economic Forum zu einer Botschaft an die rund 160000 Mitglieder seiner überwiegend aus EU-Gegnern bestehenden Partei. Großbritannien müsse zum bereits zweimal verschobenen Termin Ende Oktober unbedingt aus dem Brüsseler Club ausscheiden, ob mit oder ohne Vereinbarung: „Einen guten Deal erhält man, indem man sich auf den ,No Deal‘ vorbereitet. Wenn man etwas erreichen will, muss man dazu bereit sein, den Verhandlungstisch zu verlassen.“

Bei einem Bewerber aus der Mitte der Partei löste die Vorstellung, die Insel könne tatsächlich im Chaos aus der EU ausscheiden, Entsetzen aus. Entwicklungshilfeminister Rory Stewart, 46, nannte „No Deal“ einen „Riesenfehler, schädlich und unehrlich: Sobald wir ausscheiden, müssen wir ohnehin wieder verhandeln“. In einem persönlichen Gespräch habe ihm Johnson, 54, genau dies erst kürzlich bestätigt, auf den Kollegen sei kein Verlass.

Solche Angriffe dürften sich in den knapp vierzehn Tagen bis zu Mays Rücktritt als Parteivorsitzender häufen. Die Hatz auf Boris zielt darauf ab, den ehemaligen Journalisten als unehrlich, wenig fleißig, impulsiv darzustellen. Reichlich Material hat der frühere Londoner Bürgermeister den Parteifeinden geliefert. Beispielsweise konterte er Einwände von Wirtschaftsvertretern gegen die Brexit-Politik der May-Regierung kurzerhand mit „Fuck Business“.

Gecoacht von seiner mehr als 20 Jahre jüngeren Freundin, einer PR-Beraterin, hat Johnson zuletzt nur gegen Bezahlung öffentlich gesprochen. Sein Lager hüllte sich auch am Wochenende in Schweigen, während die Konkurrenten sich als „wirtschaftsfreundlich“ (Außenminister Jeremy Hunt), „interessiert an Details“ (Ex-Brexitminister Dominic Raab) oder „Mann mit Urteilsvermögen“ (Umweltressortchef Michael Gove) rühmen ließen – alles Spitzen gegen den Liebling von Buchmachern und Parteibasis. Johnson muss zudem eine Erfahrung britischer Politik fürchten: Seit mehr als 50 Jahren gewann bei allen Kämpfen um den Tory-Parteivorsitz am Ende nie der ursprünglich Führende.

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