zum Hauptinhalt
Dabei oder nicht dabei? Die Debatte um einen Grexit kann sehr schnell wieder aufleben.

© Michael Kappeler/dpa

Griechenland: Ursache der Eurokrise ist der Bruch der Regeln

Europa tut sich schwer mit dem Abschied von seinen Griechenland-Illusionen. Doch schon bald wird sich die Frage eines "Grexits" wieder stellen. Ein Essay über Regeln und Regelbruch.

Auf einmal ist Dynamik spürbar. Zäh und niederdrückend hatten sich die letzten Monate angefühlt. Krise, Niedergang oder Stillstand, wohin man schaute: Chinas Börsen, Griechenland, Ukraine-Krieg, islamistische Attentate von Tunesien über Ägypten, Syrien und Irak bis Afghanistan.

Doch dann folgte plötzlich diese Woche großer Veränderungen. Die Nachrichten der jüngsten Tage verheißen Aufbruch, Öffnung, Neubeginn. Als die Bürger der Eurozone am Montag aufwachten, lag nach langem Ringen ein neuer Plan zur Rettung Griechenlands vor. Am Dienstag folgte das Abkommen über die Beschränkung und internationale Kontrolle des iranischen Atomprogramms samt der schrittweisen Lockerung der Sanktionen und der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den USA und dem Iran, nach 35 Jahren Eiszeit. In der Nacht zu Donnerstag reiste erstmals ein bundesdeutscher Außenminister nach Kuba – auch das ein Symbol für die Überwindung jahrzehntealter Blockaden.

So endet eine Woche, die Mut macht. Es lohnt sich, neue Wege zu erkunden. Probleme lassen sich einer Lösung näherbringen, wenn die richtigen Partner geduldig und zielstrebig daran arbeiten, unverdrossen durch Rückschläge, mit einer geradezu penetranten Hartnäckigkeit über viele Jahre. Das Zerwürfnis über die Ukraine hinderte den Westen und Russland nicht, beim Iran-Abkommen erfolgreich zu kooperieren. Barack Obama rief Wladimir Putin an, um ihm dafür zu danken.

Das neue Rettungspaket für Griechenland hält fürs Erste die Eurozone zusammen

Die Hoffnungsformel „Wandel durch Annäherung“ aus der Zeit der westdeutschen Ostpolitik hat noch immer ihre Gültigkeit. Zur redlichen Folgenabschätzung gehört die Einsicht, dass solcher Wandel auch Risiken und dass die Annäherung zur einen Seite größere Distanz oder gar Entfremdungen nach einer anderen Seite mit sich bringen kann. Die Entwicklung mit dem Iran setzt Geopolitik in Bewegung. Man sieht es an den ungewohnten Fronten, wer für und wer gegen den Deal ist: Die Befürworter Deutschland und USA stehen gegen die Ablehner Israel und Saudi-Arabien. Das unbedingte Eintreten der Amerikaner und Deutschen für Israels Sicherheit wird nicht enden. Im Nahen und Mittleren Osten werden sich aber neue Partnerschaften bilden; die Trennlinie Sunni gegen Schia überlagert schon lange die frühere Gretchenfrage nach Pro-Israel oder Pro-Arabien. Kubas Annäherung an die USA und Europa bricht die ideologischen Blöcke in Lateinamerika auf.

Das neue Rettungspaket für Griechenland hält fürs Erste die Eurozone und das deutsch-französische Duo zusammen. Nur: wie lange noch? In vielen Euroländern löst es emotionale Abwehrreflexe aus, weil sie an den Erfolg nicht glauben und nur mit zusammengebissenen Zähnen zustimmen. Wenn sich in Griechenland keine Besserung einstellt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis einer dieser Staaten sich dem enormen Druck zur Einstimmigkeit nicht mehr beugt und offen gegen weitere Hilfe stimmt, von Finnland über die Slowakei und die Baltischen Staaten bis zu den Niederlanden. Alle diese neuen Dynamiken werden internationale Folgen haben, über die heute niemand redet. Es werden nicht nur die erwünschten sein.

Gegenüber dem Iran haben sich die Vertragspartner abgesichert. Die Erfahrung aus zwölf Jahren Verhandlungen mit wiederholtem Hin und Her haben ihre Spuren hinterlassen – und einen nüchternen Realismus befördert. Mit den Wechseln in Irans Präsidentenamt hatten sich Vorgaben und Stile geändert. Zusagen wurden zurückgezogen oder offen gebrochen. Das Misstrauen ist bis heute groß. Deshalb wurde die schrittweise Abfolge von Irans Verpflichtungen zur Reduzierung des Atomprogramms samt Kontrolle und dem Abbau westlicher Sanktionen genau konditioniert. Ein Vertragsbruch wird Folgen haben.

Noch immer triumphieren Wunschbilder über die Wirklichkeit

Ein ähnlich illusionsloses Vorgehen ist im Umgang der Euroländer mit der Griechenlandkrise noch nicht zu erkennen. Es wäre zu wünschen, dass der dritte Anlauf zur Rettung endlich funktioniert, dass auch hier Chancen und Risiken rigoros abgewogen wurden. In den öffentlichen Debatten triumphieren freilich immer noch Wunschbilder über die Wirklichkeit und Emotionen über logisches Denken. Ideologien überlagern Wirtschaftsdaten, Hinweise auf rechtlich vorgeschriebene Verfahren werden mit Polemiken beantwortet, als könne man damit ihre Bindekraft aushebeln.

In fünf Phasen der Trauer teilt die amerikanische Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross den Abschied von einem geliebten Menschen ein: Nicht-Wahrhaben-Wollen, Zorn und Ärger, Verhandeln, Depression, Akzeptanz. Sie gelten womöglich auch für den Abschied von einer liebgewonnenen Idee: dass die Eurozone funktionieren könne, weil alle sich freiwillig an die Regeln halten, ohne Sanktion. Und dass man nun, obwohl das nicht gut gegangen ist, mit einer Mischung aus gutem Zureden, Druck und Solidarität zum gewünschten Idealzustand zurückkehren könne. Wie weit freiwillige Solidarität in der EU reicht, ließ sich gerade beim Scheitern von Aufnahmekontingenten für Bootsflüchtlinge beobachten.

In der Griechenlandkrise drücken sich das Nicht-Wahrhaben-Wollen und der Zorn in Lagebeschreibungen aus, die ein klares, nicht von Trauer umflortes Auge als Zerrbild erkennen würde. Die deutsche Regierung, naziähnlich, hässlich, als einsamer Despot? Die Mehrheit der Eurostaaten wünscht sich einen strikteren Umgang mit Athen, nicht mehr Nachgiebigkeit. Griechenland ein Protektorat, dem die Entscheidungshoheit verwehrt wurde? Niemand hat das Land gezwungen, über Jahre 30 Prozent mehr auszugeben, als es einnahm. Der Druck zur Befolgung gemeinsamer Regeln als jäher Souveränitätsverlust? Die Begrenzung der Handlungsfreiheit hat jeder Eurostaat beim Eintritt in die Währungsunion unterzeichnet, nicht jetzt erst. Der „Grexit“ bedeutet ein Scheitern des Euro und damit ein Scheitern Europas? Viel wahrscheinlicher ist, dass eine Eurozone ohne ihr schwächstes Mitglied stärker sein wird.

Der aktuelle Zustand Europas vor den Gesprächen über das dritte Rettungspaket gleicht der Verhandlungsphase im Schema von Kübler-Ross. Das Scheitern wird als möglich erkannt. Noch setzen die Betroffenen aber auf neue Therapien.

Ein Katastrophenhelfer, ein Krisenmanager würde anders auf den Patienten blicken: Was waren die Ursachen des Niedergangs? Die muss man stoppen. Was ist Ziel der Therapie, lässt es sich erreichen, haben wir die Mittel dazu?

Der Hauptgrund für die Krise Europa ist der dauerhafte Rechtsbruch

Rechtsbruch ist der Hauptgrund, warum der Euro in der Krise und Griechenland in der Notlage ist. Die Regeln, die sich die Mitglieder zum Schutz der Währungsstabilität und zur Sicherung der Finanzdisziplin gegeben haben, wurden missachtet. Deutschland und Frankreich, das ist die traurige Wahrheit, waren die ersten Sünder, als sie die Maastricht-Kriterien brachen und straffreie Absolution durchsetzten. Wenn aber Rechtsbruch und Mogelei die Ursünde dieser Krise sind, müsste die rationale Konsequenz zwingend lauten, sie nicht mehr zu tolerieren. In linken Spontisprüchen aus früheren Jahrzehnten war diese Wahrheit noch lebendig: Konzepte mit einem immanenten Widerspruch wie „Fighting for Peace“ und „Fucking for Virginity“ haben keine Aussicht auf Erfolg.

Die Zeit für die Abstimmung neuer Gesetze in Griechenland ist viel zu kurz

Die Verantwortlichen in der Eurozone tun das Gegenteil. In ihrem Bemühen, Griechenland im Euro zu halten, verstoßen sie gegen grundlegende Bestimmungen der Demokratie und des Rechtsstaats wie die Regeln für Volksabstimmungen und Gesetzgebungsverfahren. Im Bundestag muss ein Gesetzesentwurf in Ausschüssen beraten und in drei Lesungen debattiert werden. Das dauert Wochen. Erst dann darf abgestimmt werden. Das griechische Parlament musste jetzt binnen 72 Stunden ein Reformpaket verabschieden, das die Bürger stärker als andere Gesetze trifft – ohne mehrfache Lesung, ohne öffentliche Debatte.

Zwei Wochen zuvor hatte die Regierung Tsipras ein Referendum angesetzt, ohne die Mindestanforderungen, wie sie zum Beispiel der Europarat festgeschrieben hat, zu beachten. Danach hätte die Fragestellung den Bürgern mindestens zwei Wochen vor der Abstimmung vorliegen und allgemein verständlich formuliert sein müssen. Befürworter und Gegner müssen faire Chancen haben, für ihre Haltung zu werben. Nichts davon galt. Sorgfältige Vorbereitung wäre gerade hier nötig gewesen. Es ging um die Zukunft der Nation. Griechenland hatte keine Übung mit Referenden, hatte seit Jahrzehnten keines abgehalten. Es ignorierte zudem die in vielen EU-Staaten gültige – und auch in der griechischen Ve

Es kam noch schlimmer: Eine Woche nachdem das Volk in angeblich demokratischer Willensbildung mit gut 60 Prozent die geforderten Einschnitte abgelehnt hatte, unterschrieb Tsipras ein noch schärferes Reformpaket und ließ das Parlament abstimmen, ohne die Bürger erneut zu befragen. Im Volk hatte die Stimmung inzwischen gewechselt. Unter dem Eindruck geschlossener Banken und im Bewusstsein, dass es eben doch um den Ausstieg aus dem Euro ging, was die Regierung beharrlich geleugnet hatte, waren nun 70 Prozent bereit, das schärfere Reformpaket anzunehmen. Das ist demokratisches Absurdistan. Das Vorgehen verstärkt die Zweifel am Wert des vorigen Referendums. Und zeigt, wie wenig Orientierung die politischen Parteien den Griechen geben. Trotz all dieser Defizite wollen viele Kommentatoren nicht davon ablassen, Griechenland als Mutterland und Wiege der Demokratie anzupreisen.

Tsipras’ Referendum war eine Farce

Europa kann mildernde Umstände für den jüngsten Kompromiss anführen. Der Zeitdruck war groß. Wem wäre gedient, wenn geforderte Fristen eingehalten würden, die griechische Wirtschaft aber zusammenbräche, ehe die bewilligte Rettung eintrifft? „Not kennt kein Gebot“, sagt das Sprichwort. Wer den ungeplanten „Grexit“ verhindern wollte, musste einen Weg finden, wie Griechenland rasch frisches Geld bekommt. Doch „Not kennt kein Gebot“ darf nur für die unabdingbare Soforthilfe gelten und kein Vorwand sein, um den Rechtsbruch zur Methode zu machen. Der wiederholte Regelbruch und die Perversion demokratischer Standards bedrohen auf Dauer den Kern des politischen Systems. Sie höhlen seine Legitimität aus. Sehen die Regierenden diese Gefahr nicht?

Viele scheinen Regelbruch als eine lässliche Sünde zu betrachten, nicht als den Ursprung und eigentlichen Kern der Krise, dessen Folgen bei jeder Rettungsstrategie folglich mitbedacht werden müssen. Man kann das an den wütenden Reaktionen auf Wolfgang Schäubles Hinweis ablesen, dass die europäischen Verträge den Schuldenschnitt der öffentlichen Gläubiger für Griechenland verbieten, solange es Euro-Mitglied ist. In der Sache hat ihm niemand widersprochen: Rechtlich wäre ein „Grexit“ die Voraussetzung, damit Griechenland die Schulden erlassen werden, für die andere EU-Staaten bürgen. Was also meint Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem, wenn er sagt, die „Grexit“-Debatte müsse enden? Nach den Gesetzen der Logik hieße das, er fordert ein Ende der Schuldenschnitt-Debatte – denn ohne „Grexit“ kein legaler Schuldenschnitt. Nach den Gesetzen der Euro-Politik und ihrer Regelvergessenheit hingegen wollen er und andere Schäuble-Kritiker sagen, man müsse sich den Weg zum Schuldenschnitt ohne „Grexit“ offenhalten, auch wenn die Verträge das nicht erlauben. Sie bereiten also den nächsten Rechtsbruch vor.

Wenn man wenigstens glauben dürfte, dass es gelingt, Griechenland unter enormen Kosten im Euro zu halten und dahin zu bringen, dass es seine Ausgaben in absehbarer Zeit aus eigenen Einnahmen deckt! Die Erfahrungen mit Athen und die Finanzzahlen lassen vermuten, dass sich die Frage nach dem „Grexit“ bald wieder stellt. Europa ist noch mitten in den fünf Phasen des Abschiednehmens von seinen Euro-Illusionen. Diese Woche hat es immerhin einen Schritt näher an die Wirklichkeit gebracht. Wenn nicht ein Wunder den griechischen Patienten heilt, zahlt Europa am Ende doppelt, wird die Kosten des „Grexit“ nicht vermeiden und trägt zudem den Schaden für das Euro-Regelwerk und die demokratische Kultur.

Zur Startseite