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Günter Grass mit Pfeife.

© dpa

Grass, Peymann und Co.: Der Generationswechsel ist missglückt

Die Kriegsgeneration beherrscht noch immer das Land: Ihrem moralisch verbrämten Machtanspruch hat niemand etwas entgegenzusetzen. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Moritz Schuller

Mit Günter Grass tritt eine Generation ab, die in der Schule das Horst-Wessel-Lied lernen konnte, ohne dass es Ärger gab. Diese Generation hat es geschafft, dass wir noch immer ihre Lieder singen. Sie hat die Definitionsmacht über die Geschichte nie aus der Hand gegeben. Dass Grass am Ende seines Lebens uns alle kurz vor dem dritten Weltkrieg wähnte, war möglicherweise Ausdruck des narzisstischen Impulses, mit ihm müsse auch der Rest der Welt untergehen. Vor allem aber drückt es der nächsten Generation das Misstrauen aus: Ihr könnt es nicht, ihr macht die Welt kaputt.

Wer einen Hammer hat, sieht überall Nägel

Helmut Kohl, der mit Grass selten einer Meinung war, klingt sehr ähnlich, wenn es um die Zukunft der Europäischen Union geht: Sein Erbe wird zerstört. Helmut Schmidt spricht stets vom „Scheißkrieg“, denn das ist das Distinktionsmerkmal dieser Generation: Wer den Krieg nicht erlebt hat, darf nicht mitreden. Wer einen Hammer hat, sieht überall Nägel; wer eine Biografie wie Günter Grass hat, sieht überall Nazis.

Noch heute landet jede politische Frage in Deutschland nach zwei kurzen Umdrehungen bei Hitler. Ob Euro oder Schlossneubau oder Flüchtlinge oder die Lage im Nahen Osten, alles hat mit der deutschen Vergangenheit zu tun. Es geht um Reparationen, und selbst ein prächtiges neues Museum in der Mitte der Hauptstadt darf allenfalls die politisch korrekten außereuropäischen Sammlungen präsentieren. Das war schon immer so. Die Perspektive richtet sich ausschließlich darauf, dass Europa nie wieder sein soll wie früher – und nicht darauf, wie Europa heute und in der Zukunft sein sollte. Der Maßstab dieser Generation ist, verständlicherweise, die Vergangenheit. Gegen diese Erzählung aber hatte die nachfolgende Generation offenbar keine Chance. Deshalb hat sie sie einfach übernommen.

Keiner war dabei so erfolgreich, die eigene biografische Erfahrung als nationales Narrativ zu präsentieren, wie Günter Grass, denn er hat, im Laufe der Jahre, alle denkbaren Rollen in der Geschichte besetzt: Er war Zeitzeuge, Leidtragender, Kritiker, Aufklärer. Am Ende, als wollte er seinen Griff auf die Vergangenheit so noch ein letztes Mal festigen, war er sogar Täter – ein SS-Mann.

Was gesagt werden muss

Grass’ Widerstand gegen die Wiedervereinigung lässt sich leicht als der Kampf gegen ein konkurrierendes historisches Narrativ verstehen, über das er keine Kontrolle hatte und das nicht mit ihm verbunden werden konnte. Auch seine Kritik an Israels Atompolitik in dem Gedicht „Was gesagt werden muss“ war mit dieser Vergangenheit verklammert („aus meinem Land,/ das von ureigenen Verbrechen,/ die ohne Vergleich sind,/ Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird“). Grass hat mit der deutschen Geschichte sich, sein Werk und sein politisches Wirken isoliert. Wer ihn oder seine Generation vom Thron gestoßen hätte, hätte sich moralisch diskreditiert – er hätte zwangsläufig dem Schlussstrich das Wort geredet.

Der Übergang von einer Generation zur nächsten vollzieht sich friedlich – oder weniger friedlich. In der Mythologie hat Kronos seinen Vater mit der Sichel kastriert und die eigenen Kinder verschlungen. Die Babyboomer dagegen haben die Macht im Land, die politische, kulturelle, ideologische Macht, nie übernommen. Denn dazu darf man die Auseinandersetzung nicht scheuen.

Doch auch heute noch sind die Angreifer die Alten. Der Berliner Kulturstaatssekretär Tim Renner muss sich gegen die Attacken von BE-Chef Claus Peymann wehren. Dabei geht das eigentlich Erstaunliche unter: dass ein 77-Jähriger noch immer eines der großen Theater der Stadt leitet. Gibt es niemanden in der Generation darunter, der ihm dieses Haus streitig macht? Stattdessen lässt sich Renner, quasi als Vertreter seiner Generation, öffentlich demütigen.

„Die Geschichte der Deutschen ist von missglückten Generationswechseln geprägt“, sagte die Münchner Psychoanalytikerin Thea Bauriedl vor einigen Jahren in einem Interview mit der „Zeit“. Der Generationswechsel von der Kriegsgeneration zur nächsten ist missglückt, weil er nie stattgefunden hat. Das Misstrauen ist also durchaus berechtigt – nicht aber, weil die Kinder von Grass und Kohl dabei sind, den dritten Weltkrieg auszulösen, sondern weil sie es nicht geschafft haben, sich von der Generation ihrer Eltern zu befreien. Es fehlen die Sichelträger, die dem moralisch verbrämten Machtanspruch dieser Kriegsgeneration etwas entgegenzusetzen hätten. Und so leben wir, politisch und auch ästhetisch, in der Vergangenheit.

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