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Sigmar Gabriel bedauert den Abschied der Kanzlerin, deren unaufgeregte Krisenfestigkeit den Menschen in Deutschland das Gefühl von Sicherheit gab.

© imago images/Political-Moments

Globale Konflikte auf dem Vormarsch: Merkel entlässt uns schlecht gerüstet in die Krisenzeit

Die transatlantische Dominanz läuft aus, mit dem Ende der Merkel-Ära wird es ruppiger. Nach 16 Jahren Behaglichkeit heißt es: Aufwachen bitte! Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Sigmar Gabriel

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Sigmar Gabriel, früher Außenminister und SPD-Vorsitzender. Heute ist er Vorsitzender der „Atlantikbrücke“, Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bank und Autor der Holtzbrinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel gehört. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Günther H. Oettinger, Jürgen Trittin, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Fragt man angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl und der bald darauf folgenden französischen Präsidentschaftswahl, auf welche Herausforderungen sich die europäische Politik einstellen muss, ist zunächst ein Hinweis wichtig: Für Regierende besteht die größte politische Herausforderung oft darin, mit dem Nicht-Erwartbaren  klar zu kommen. Harold McMillan, britischer Premier von 1957 bis 1963, wurde einmal gefragt, was seine Regierung eigentlich angetrieben habe. Seine lapidare Antwort: „Events, dear boy, events.“

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Unvorhersehbare Ereignisse spielen auch in unserer jüngeren Geschichte eine wesentliche Rolle. Helmut Schmidts Kanzlerschaft beispielsweise wurde vom Terror der RAF geprägt. Helmut Kohls Regierungszeit vom überraschenden Fall der Mauer. Und Angela Merkel musste in der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit fast in einen permanenten Krisenmodus umschalten, weil weder die Annexion der Krim, noch die Flüchtlingskrise oder die Corona-Pandemie wirklich vorhersehbar waren. „Alles, was klappt, wird hinterher zur Strategie erklärt“, lautet eine Weisheit von Altbundeskanzler Gerhard Schröder.

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Andererseits gibt es natürlich auch viele Aufgaben, die auf der Hand liegen. Am Ende der Bundeskanzlerschaft von Angela Merkel drängt sich deshalb die Frage auf: Wer übernimmt künftig die politische Führung? Und: Welche Herausforderungen kommen auf uns und unsere Kinder zu?

Bevor man in die Zukunft schaut, lohnt oft ein Blick in die Vergangenheit: 16 Jahre Kanzlerschaft, das ist schon eine sehr lange Zeit. Bedenkt man, wie rasant die technologischen und geopolitischen Entwicklungen in diesen Jahren vorangeschritten sind, zählen Merkels Regierungsjahre fast doppelt. Die Kanzlerin musste Herausforderungen bestehen, wie es sie vorher bei uns in so schneller Abfolge noch nie gegeben hat. 

Die Kanzlerschaft wirkt wie in zwei Phasen geteilt

Neben der Krim-Annexion durch Russland und der Flüchtlingskrise vor allem die Euro-Krise, islamistischen und rechtsextremistischen Terrorismus, Brexit, die Pandemie. Und nun auch noch die Hochwasserkatastrophe. Merkels Kanzlerschaft wirkt beinahe zweigeteilt: Die erste Phase von 2005 bis 2013, in der die Finanzkrise zu bewältigen war, erscheint rückblickend fast wie eine Art Vorbereitung auf die späteren Großkrisen.

Man muss nicht mit allem einverstanden sein, was Merkel und ihre Regierungen in dieser Zeit getan oder nicht getan haben. Ich meine aber, dass unser Land sehr stabil und sicher durch diese stürmische Zeit gekommen ist – das verdanken wir in nicht unerheblichem Maß auch Merkels nüchternem, unaufgeregtem Regierungsstil.

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Wer noch einen Eindruck von der Professionalität der Kanzlerin gewinnen will, findet ihn in ihrem mitfühlenden Auftreten in den deutschen Flut-Katastrophengebieten und bei ihrer unbeirrbaren Durchsetzung der Gaspipeline Nord Stream 2. Wo andere wie aufgescheucht durch die Kulisse stolpern, setzt sie auf die Kraft der eigenen Argumente und auf Beharrlichkeit. Vermutlich ist es das, was wir vermissen werden.

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In den vergangenen 16 Jahren hat sich die Welt allerdings auch dramatisch verändert. So, wie Merkel ihr Land durch alle Turbulenzen geführt hat, hat sie zugleich die Bürgerinnen und Bürger zu wenig auf diesen Wandel vorbereitet. Ihr Regierungsstil schien eher geneigt, uns vor dem Wandel bewahren zu wollen.

Es waren überwiegend "goldene Zeiten"

Die vergangenen Jahre waren ja auch überwiegend „goldene Zeiten“, geprägt vom lang anhaltenden Wirtschaftsaufschwung. Deutschland ist der Gewinner der Globalisierung. Wir waren und sind „die Industriealisierer der Welt“ mit unserem Maschinenbau, unserer Elektrotechnik, unserer Automobilindustrie und vielem mehr. Das hat uns dazu verleitet, den rasanten geopolitischen Wandel zu sehr aus dem Augenwinkel zu sehen statt ihn ins Zentrum des Gesichtsfelds zu rücken. 

Das macht die Ambivalenz von Angela Merkels Regierungszeit aus. Sie hat uns von den zunehmend härteren internationaler Spannungen weitgehend bewahrt. Die Kehrseite der Medaille: Unsere beschauliche Gesellschaft und unsere staatlichen Institutionen haben sich mental nicht auf die großen globalen „Schocks“ eingestellt, die in den nächsten Jahren auch Deutschlands Regierungspolitik prägen werden:

1. Die Verschiebung der zentralen Handels- und Wirtschaftsachsen vom Atlantik und Europa in den Indo-Pazifik und nach Asien. Dort lebt die Mehrzahl der Menschheit, dort wird der größte Teil des Weltsozialprodukts erarbeitet, dort gibt es inzwischen fünf Atommächte.

2. Nicht weniger als 600 Jahre Dominanz europäischer Ideen in der Weltgeschichte sind so unwiederbringlich zu Ende gegangen.

3. Das Ende der Pax Americana, weil die Vereinigten Staaten nicht mehr die globale ökonomische Dominanz besitzen, die es ihnen zuvor ermöglicht hat, Garant der liberalen Weltordnung zu sein.

4. Die dramatische Veränderung der Wertschöpfungsketten von analogen Produkten zu digitale Datenplattformen. Dort dominieren nicht Deutsche oder andere Europäer,  sondern amerikanische und chinesische Tech-Giganten.

5. Das Ende des fossilen Zeitalters und die Transformation unserer Ökonomie hin zur Klimaneutralität.

6. Die demografische Entwicklung, der wir weitgehend tatenlos zusehen, obwohl klar ist, dass unseren Rentenkassen ab 2030 vor riesigen Problemen stehen werden. 

Merkels Politik hat es uns ermöglicht, über all das nicht wirklich nachzudenken. Es ist nach wie vor unklar, ob sie ihren Spitznamen „Mutti“ nun mag oder nicht, aber die Rolle einer Mutter, die „ihre Kinder“ vor den Unbilden der Welt schützen will, hat Merkel tatsächlich gespielt. Diese Ära geht nun zu Ende.

[Lesen Sie bei T-Plus: Von Kartoffelsuppe bis Frosch-Taktik - Die 16 Erfolgsgeheimnisse der Kanzlerin.]

Wie es in Familien der Fall ist, wenn erwachsen gewordene Kinder zu lange im „Hotel Mama“ bleiben und dann mit Schreck erkennen, was das „wirkliche Leben“ von ihnen abverlangt, so geht es jetzt wohl auch vielen von uns: Wir sind mental und politisch nicht gut vorbereitet auf eine Welt, die sich in rasantem Tempo verändert und auch noch ruppiger werden wird. Während wir gerne über Werte diskutieren, prägt zunehmend knallharte Interessenpolitik die Welt.

Werte formulieren - aber auch Interessen

Europa wird nur überleben, wenn Deutschland lernt, ohne Großmannssucht wieder zu führen –  und neben Werten auch Interessen formuliert, was etwa für Frankreich und das Vereinigte Königreich ganz selbstverständlich ist. Dort heißt es: Werte gelten nach innen, nach außen dominieren Interessen. Das nennt man Realpolitik. 

Gerade auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik wird es künftig mehr unpopuläre Entscheidungen geben – die verbalen Prügel, die der  Grünen-Vorsitzende Robert Habeck für seine Forderung bekam, deutsche Waffen in die Ost-Ukraine zu liefern, waren nur ein erstes Wetterleuchten. Verlässliche Grundlagen einer internationalen Ordnung werden auf absehbare Zeit Mangelware sein. Vermutlich ist die „Ära Merkel“ die letzte ihrer Art. Man darf gespannt darauf sein, wer ihre Nachfolge antritt. Eines ist jedenfalls heute schon klar: Die Reibungsverluste, Widersprüchlichkeiten und Zumutungen, die diese neue Zeit im Inneren wie nach außen bereithalten, machen künftig weit kürzere Regierungszeiten wahrscheinlich.

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