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Sieht nicht nach Bundesgartenschau aus - ist es aber. Testzentrum in Erfurt.

© dpa/Martin Schutt

Global Challenges: Mit Staat und Markt gegen die Pandemie

Corona zeigt: Behörden und Unternehmen müssen dringend besser kooperieren. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Jörg Rocholl

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Prof. Jörg Rocholl PhD, Präsident der Wirtschaftshochschule ESMT in Berlin. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Prof. Dr. Volker Perthes,, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Beginnen wir mit einem Gedankenexperiment: Was wäre passiert, wenn statt der Europäischen Kommission die Einkaufsleiter von mächtigen Discountern die Verträge zur Impfstoffbeschaffung verhandelt hätten? Was wäre dann geschehen, wenn man anstelle häufig lokal gestrickter Software die Plattform eines großen Veranstaltungsvermarkters für die Vergabe der Impftermine genutzt hätte? Und schließlich: Was wäre die Folge gewesen, wenn die Produktionsleiterin eines Industriebetriebs die Logistik in den Impfzentren organisiert hätten? Die Antwort: Der Impffortschritt hätte deutlich beschleunigt werden können.

Die fehlende Effizienz behördlicher Prozesse und deren Auswirkungen sind selten so deutlich geworden wie in der Corona-Krise. Konnte man Planungsfehler und Kostenüberschreitungen wie bei der Elbphilharmonie oder dem Berliner Flughafen noch in der Kategorie teure Einzelfälle abhandeln, zeigt die Pandemie einen systemischen Nachholbedarf. Das ist tragisch, weil es bei der Virusbekämpfung nicht in erster Linie um finanzielle Auswirkungen geht, sondern um Leben und Tod. Insgesamt ist der öffentliche Sektor den gegenwärtigen Herausforderungen der Pandemie nicht gewachsen. Und er scheint auch nicht geeignet zu sein, Wohl und Wohlstand zu sichern.

Signifikante Umsatzverluste

Pandemien haben verheerende Folgen für Menschen, Unternehmen und Staaten. Die hohen Infektions- und Todeszahlen in aller Welt, die gravierenden Einkommensrückgänge und Verluste von Arbeitsplätzen, die signifikanten Umsatzverluste bis hin zu Konkursen für Unternehmen und die weltweit steigende Staatsverschuldung – das sind nur einige der dramatischen Folgen. Umso wichtige ist es, die richtigen Lehren aus der Krise zu ziehen. Diese Lehren werden besonders klar im internationalen Vergleich. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Frage, wie viel Markt und wie viel Staat es in Zukunft denn sein sollen.

Keine Frage: Der Markt hat Bemerkenswertes geleistet. In Rekordgeschwindigkeit sind Impfstoffe erfunden worden. Produktionsprozesse in Textilunternehmen wurden umgehend umgestellt, um statt regulärer Bekleidung Schutzmasken zu fertigen. Kaum gab es Berichte über fehlende Desinfektionsmittel, Schnelltests und Selbsttests, stieg das globale Angebot ebenso rasant an wie die Preise sanken. Forderungen nach mehr Staat und weniger Markt gehen also in die falsche Richtung.

Allerdings wäre es grob fahrlässig, die wichtige Rolle des Staates in der Pandemie zu ignorieren oder auch nur gering zu schätzen. Diese Rolle zeigt sich an anderer Stelle: Die massiven staatlichen Rettungspakete haben, bei aller berechtigten Detailkritik, wesentlich dazu beigetragen, dass der Abschwung vor allem in den USA und Europa nicht noch kräftiger ausgefallen ist. Die vielfältigen und umfangreichen Hilfsmaßnahmen haben die Aussicht deutlich verbessert, dass dem tiefen Tal möglichst schnell neue Höhen folgen können. Der Staat hat hier seine massive Finanzkraft eingesetzt – und zwar just in jenem kritischen Moment, als private Akteure keine stabilisierende Rolle mehr spielen konnten.

Strategische Reserven vorhalten

Damit fungierte der Staat, wie schon in der Weltfinanzkrise, als ultimative Rückversicherung. In der Bundesrepublik kommt im Vergleich zu anderen Ländern hinzu, dass die hohe Zahl verfügbarer Intensivbetten in den Kliniken noch kritischere Situationen verhindern konnte. Diese Zahl sollte sich auch künftig nicht am gewöhnlichen Krankheitsgeschehen ausrichten, sondern die Möglichkeit extremer Zunahmen von Patientenzahlen in Pandemiezeiten berücksichtigen – und sei es nur durch die Option eines zeitlich flexiblen Ausbaus der Kapazitäten. Genauso wie die Ausgaben für die Feuerwehr selbst dann verstetigt werden, wenn es lange Zeit nicht gebrannt hat, sollte der Staat die Kapazitäten für Masken, Medikamente, Tests, Intensivbetten und Impfungen auch in „normalen“ Zeiten als strategische Reserve vorhalten.

Das ist nicht nur wegen der in einer Pandemie sprunghaft steigenden Nachfrage nach diesen Gütern notwendig, dem das Angebot zumindest zeitweise nicht folgen kann. Die strategische Reserve erscheint auch deshalb sinnvoll, weil internationale Lieferketten, die in „normalen“ Zeiten das einschlägige Güterangebot schnell erhöhen könnten, in Ausnahmesituationen nur eingeschränkt zur Verfügung stehen. Zum einen deshalb, weil Lieferketten pandemiebedingt unter Stress geraten und gestört werden. Zum anderen, weil sich bestimmte Länder in der Pandemie abschotten und zum Beispiel ein Ausfuhrverbot für kritische Güter verhängen, das selbst die für sie grundlegenden Rohstoffe umfassen kann.

Die großen Fortschritte bei den Impfungen in Großbritannien und den USA sind wesentlich darauf zurückzuführen, dass die zwei Länder keine Impfstoffe ausführen, sondern sie zunächst nur für die eigene Bevölkerung nutzen. Deutschland und Europa haben bewusst einen anderen Weg gewählt: Die Impfstoffbesorgung wurde nicht national, sondern europäisch geregelt. Und Vakzine werden nach wie vor auch in andere Regionen exportiert. Die Rolle des Staates in Zeiten der Pandemie ist in der EU eine andere als in Großbritannien und den USA. Auch in China spielt der Staat in Corona-Zeiten eine andere Rolle als auf dem „alten Kontinent“.

Effizienz ist nicht das einzige Kriterium

Während in der EU die Bewahrung der Freiheitsrechte von essentieller Bedeutung ist, ergriff China Maßnahmen, die damit nicht in Einklang zu bringen sind: Verpflichtende Massentests, rigorose Nachverfolgung von Kontakten samt digitaler Überwachungstechnologien, strenge Kontrolle von Lockdowns und starke Einschränkungen der Reisefreiheit sind Beispiele, die in der Schlussfolgerung gipfeln: „Mit Quarantäne gibt es keine Menschenrechte, ohne Quarantäne keine Menschen mehr.“ Die Effizienz der Maßnahmen steht außer Frage, aber ebenso klar ist, dass Effizienz nicht das einzige Kriterium bei der Bewertung staatlicher Maßnahmen sein sollte.

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Mit Blick auf ihre Werte und Tradition dürfte für Deutschland und die EU der Weg klar sein: Die staatlichen bzw. gemeinschaftlichen Institutionen müssen schlagkräftiger sein. Es ist also richtig, Impfstoffe auf europäischer Ebene zu besorgen und sich nicht wie Briten und Amerikaner einem Impfnationalismus hinzugeben. Ebenso richtig ist es, immer wieder sorgfältig zwischen den Notwendigkeiten des Infektionsschutzes und der vorübergehenden Einschränkung von Freiheitsrechten abzuwägen. Wir sind schließlich nicht in China.

Im Übrigen muss ein starker Staat in Europa kein Staat sein, der immer mehr Aufgaben an sich zieht. Der Staat muss vielmehr – in der Pandemie, aber auch in „normalen“ Zeiten – bei der Lösung von drängenden Problemen besser werden, nicht zuletzt durch eine intelligentere Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Das gilt etwa für die Anschubfinanzierung von Grundlagenforschung und der Risikoteilung bei der Erforschung von Impfstoffen. Lernen von den Besten muss die Losung lauten – für den Staat und die Unternehmen.

Jörg Rocholl

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