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Ein Nationalheld verschwindet. Lange wird dieses Wandbild des afghanischen Mudschaheddin-Kämpfers Ahmad Schah Massoud, Anführer des Widerstands gegen die Taliban, hier nicht mehr prangen. Straßenszene aus Kabul im September.

© Aamir Qureshi/AFP

Global Challenges: Ein Jahr Erfolg, 19 Jahre Scheitern

In Afghanistan endete das Zeitalter des humanitären Interventionismus - für die USA wie für Europa. Ein Gastbeitrag.

Ein Gastbeitrag von Jürgen Trittin

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Jürgen Trittin. Er ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags. Er war Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen und in der Regierung Schröder Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Weitere AutorInnen: Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther Oettinger, Prof. Jörg Rocholl PhD, Prof. Dr. Bert Rürup, Prof. Dr. Renate Schubert.

Aus dem geplanten „Gemeinsam raus“ wurde eine planlose Flucht, bei der die Bundesregierung 40000 Ortskräfte mit ihren Familien in Afghanistan zurück ließ. Die dienen den Taliban nun als Geiseln beim Poker um finanzielle Unterstützung und politische Anerkennung. Das Ausmaß des handwerklichen Desasters von Angela Merkel und Heiko Maas ist atemberaubend. Doch die geostrategischen Konsequenzen des Scheiterns der Nato in Afghanistan weisen über den moralischen Bankrott und den Dilettantismus der Bundesregierung hinaus. Mit Afghanistan endet ein Zeitalter. Es endet die Ära des humanitären Interventionismus.

Sie begann auf dem Balkan in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Nach dem Ende des Kalten Krieges mussten dort die Deutschen und mit ihnen die Grünen lernen, dass man angesichts schwerster Menschenrechtsverletzungen auch durch Nicht-Handeln schuldig werden kann. Aus dieser Erfahrung erwuchs die Idee der humanitären Intervention. Nach „Nie wieder Krieg“ wurde der Krieg wieder zur Ultima Ratio, um Völkermord zu verhindern und internationales Recht durchzusetzen.

Zwar konnte auch auf dem Balkan ein massives Sicherheitsinteresse Europas nicht geleugnet werden. Es verfestigte sich aber ein Konsens, wonach das Militär zur Durchsetzung der Herrschaft des Rechts ein Zeitfenster für politische Lösungen schaffen könne. Im Kern ging es dann nur noch um die Frage, ob ein solcher Einsatz ein Mandat des Uno-Sicherheitsrates benötige oder auch in „Koalitionen von Willigen“ umgesetzt werden könne.

Schnöde Interessenpolitik

Aus Sicht einer Mehrheit der Völker ist die humanitäre Intervention schon länger als Narrativ für schnöde Interessenpolitik der USA und Europas desavouiert. Belege dafür lieferte der völkerrechtswidrige Einmarsch von George W. Bush und Tony Blair im Irak ebenso wie der Uno-mandatierte Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen durch seine ehemaligen Freunde in Frankreich und Großbritannien.

Afghanistan offenbart nun das endgültige Scheitern dieses Konzepts. Das Land am Hindukusch wurde zu einem „forever war“. Der Beteiligung an nie endenden Kriegen hat die Biden-Harris-Administration nun eine strategische Absage erteilt: „This decision about Afghanistan is not just about Afghanistan. It's about ending an era of major military operations to remake other countries.“ Es wäre leichtfertig Joe Bidens Ansatz, Außenpolitik von den Interessen der amerikanischen Mittelschicht her zu denken, als bloß innenpolitisch motiviert abzutun. Vielmehr handelt es sich um eine Absage an humanitäre Interventionen, wie sie bis heute gedacht und ausgeführt wurden.

Auf dem alten Kontinent davon zu träumen, humanitären Interventionen künftig ohne die USA betreiben zu können, verkennt zwei Dinge. Erstens würde Europa schon Probleme haben, die bescheidene Zahl von 5000 Soldaten für die vom EU-Außenbeauftragten Josep Borell geforderte schnelle Eingreiftruppe zusammen zu bekommen. Zweitens verkennt es die tieferen Gründe des Scheiterns in Afghanistan. Dort gab es nach dem „Gemeinsam rein“ nämlich nie ein „Gemeinsam drinnen“.

Während deutsche und andere Verbündete auf zivil-militärische Staatenbildung setzten, konzentrierten sich die militärisch dominanten USA unter allen Präsidenten auf die Aufstandsbekämpfung. Was George W. Bush und Barack Obama praktizierten, formulierte Donald Trump 2017 unverhohlen so: „We are not nation building again. We are killing terrorists.“

Nato-Truppen als Geisel

Aufstandsbekämpfung und Staatenbildung schließen sich aus. Der Versuch, Afghanistan durch die Afghaninnen und Afghanen aber ohne die Taliban zu regieren, scheiterte spätestens 2014. Die Nato-Truppen wurden so zu Geiseln im innerafghanischen Machtkampf. Nach dem ersten militärischen Sieg über die Taliban hätten mit ihnen jene Gespräche stattfinden müssen, die heute aus einer Position der Schwäche geführt werden.

Dabei wäre eines offenbar geworden: Die Bundeswehr stand nicht am Hindukusch, um den Schulbesuch von Mädchen abzusichern, sondern um eine terroristische Bedrohung abzuwenden. Der Sozialdemokrat Kurt Beck, der früh Gespräche mit den Taliban gefordert hatte, wurde ausgelacht. Stattdessen setzte man auf zwei sich ausschließende Strategien. So folgten auf das Jahr des militärischen Siegs am Hindukusch 19 Jahre des Scheiterns.

Die Bevölkerungen in den Demokratien Europas und Nordamerikas werden nach dieser Erfahrung noch interventionsmüder sein, als sie es schon bei Libyen oder dem Irak waren. Eine kommende Bundesregierung muss sich einer unangenehmen Übung unterziehen – sie muss sich der Realität stellen. Militär wird nicht für Werte sondern für Interessen eingesetzt.

Die Entscheidung der USA gegen nie endende Kriege fordert von Europa, sich jenseits der Werterhetorik verstärkt um seine eigene Sicherheit zu kümmern. Dafür muss Europa außen- und sicherheitspolitisch handlungsfähig werden. Angesichts der strategischen Neuausrichtung der US-Außenpolitik wird dies kaum im Rahmen der Nato gelingen. Die USA haben angekündigt, im Mittleren Osten nur noch die Kapazitäten vorzuhalten, die notwendig sind, um eine Bedrohung ihrer Sicherheit abzuwenden.

Ungenügend vorbereitet

Europa wird sich selbst um seine Sicherheit an der Südgrenze kümmern müssen. Die wird nicht nur von islamistischen Terrorgruppen und zerfallenden Staaten bedroht. Eine der Herausforderung ist beispielsweise die Politik des Nato-Mitglieds Türkei im östlichen Mittelmeer. Auf all das ist die Europäische Union ungenügend vorbereitet. Denn das Ende des humanitären Interventionismus bedeutet nicht das Ende möglicher Auslandseinsätze.

Zum 20. Jahrestag von 9/11 muss Europa seine realpolitischen Hausaufgaben machen. Nachdem der Terroranschlag auf das World Trade Center die Nato im Kampf gegen den Terrorismus geeint hatte, steht Europa heute wieder vor einer ähnlichen Situation wie im Jahr 2001. Dieses Mal gibt es eigentlich nur noch die Option, Allianzen eher um gemeinsame Interessen als um Werte aufzubauen.

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Soll Afghanistan nicht wieder zu einem sicheren Hafen für Terroristen werden, wird Europa nicht nur zu belastbaren Vereinbarungen mit den Taliban kommen müssen, auch um den Preis ihrer Aufwertung. Es wird auch mit China und Russland kooperieren müssen, die in ihrem Westen und im Kaukasus selbst ein veritables Terrorismus-Problem haben.

Mit einer Autokratie wie China bei der Eingrenzung des internationalen Terrorismus zu kooperieren, hat eine andere Dimension, als bei der Bekämpfung der Klimakrise und dem Ausbau von Erneuerbaren Energien zusammen zu arbeiten. Eine Frontstellung Demokratie versus Autokratie verträgt sich damit jedenfalls nicht. Ein Jahr Erfolg und 19 Jahre Scheitern der Nato in Afghanistan haben die geostrategischen Gewichte zugunsten Chinas verschoben. Das ist die bittere Lektion aus der Niederlage der Nato am Ende des längsten Einsatzes, an dem deutsche Soldat*innen je beteiligt waren.

Jürgen Trittin

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