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Arabische Israelis verteidigen eine Moschee in Lod gegen Angriffe radikaler jüdischer Israelis.

© Ahmad GHARABLI/AFP

Gewalt zwischen jüdischen und arabischen Israelis: Das dünne Band der Nachbarschaft

Die Gewaltexplosion in Israel überraschte viele. Ihre Dimension ist neu. Die Diskriminierung der Minderheit hat Folgen - was sich ändern muss. Ein Gastbeitrag.

Markus Bickel leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv und berichtete jahrelang als Journalist aus dem Nahen Osten.

Es hätte die erste jüdisch-arabische Koalition in der Geschichte Israels werden können – und die erste Regierung ohne Benjamin Netanjahu seit zwölf Jahren.

Doch nur Stunden nachdem der israelisch-arabische Politiker Mansour Abbas und der Vorsitzende der Rechtspartei Jamina, Naftali Bennet, vergangene Woche ihre grundsätzliche Bereitschaft bekundeten, ein Bündnis einzugehen, beschoss die Hamas Jerusalem: Mit dem vierten Gaza-Krieg seit 2009 endete die Annäherung zwischen den ungleichen Partnern so schnell wie sie begann.

Und Israel steht mitten in den Trümmern einer Woche jüdisch-arabischer Gewalt, wie sie das Land seit den Tagen der Zweiten Intifada ab 2000 nicht gesehen hat: 70 Wohnungen und 100 Autos wurden allein in Vororten Tel Avivs zerstört, mehr als ein Dutzend Synagogen und Regierungsgebäude in der Gegend um Ramle und Lod in Brand gesetzt.

Radikale Siedler waren an allen Schauplätzen der Gewalt anzutreffen

Aber auch in Akko, Tiberias, Beersheba und anderen Gemeinden griffen jüdische Krawallmacher arabische Geschäfte an, in Bat Jam zerrte ein Lynchmob einen arabischen Israeli aus seinem Auto und schlug ihn bewusstlos. Von der Polizei war nichts zu sehen. Dafür an fast allen Schauplätzen der Gewalt rechte Siedler aus dem Westjordanland, „Tod den Arabern“ vielerorts ihr Schlachtruf.

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In Lod wiederum verhängte die Armeeführung den Ausnahmezustand, nachdem arabische Bewohner der gemischten Stadt jüdische Bewohner angegriffen und Synagogen angezündet hatten. Von einer neuen „Kristallnacht“ ist dort schon die Rede. 2020 waren von einer Gesamtbevölkerung Israels von 9,2 Millionen 1,9 Millionen arabische Israelis.

Eine Synagoge in der israelischen Stadt Lod, die von arabischen Israelis in Brand gesteckt wurde.
Eine Synagoge in der israelischen Stadt Lod, die von arabischen Israelis in Brand gesteckt wurde.

© Ahmad Gharabli/AFP

Die ethnokonfessionell motivierten Ausschreitungen sind das Ergebnis eines Jahrzehnts rechter Hetze, die durch Netanjahu befördert wurde. Immer intoleranter wurden die Kabinette, die er mangels eigener Parlamentsmehrheit seiner Likud-Partei zusammenstellte.

Aber auch der Regierungschef selbst goss Öl ins Feuer: Als „existenzielle Bedrohung“ beschrieb er in der Vergangenheit israelisch-arabische Politiker, die das Ziel verfolgten, „uns alle auszulöschen“. Zuletzt, im Wahlkampf für die vierte Knessetwahl in zwei Jahren, unterstützte Netanjahu sogar Mitglieder der ultrarechten Kahanisten-Bewegung.

So sitzen nun Abgeordnete wie der Rechtsextremist Itamar Ben Gvir von der Partei Jüdische Stärke im Parlament, der sich offen für die Vertreibung arabischer Israelis einsetzt, „die dem Staat gegenüber nicht loyal sind“.

Und der Mann, der vor gerade einmal zehn Tagen wie der künftige Regierungschef aussah, Jamina-Chef Bennett, verglich noch 2018 Palästinenser mit Moskitos: „Wenn du sie tötest, gelingt es dir, 99 von ihnen zu töten, und der hundertste Moskito, den du nicht tötest, tötet dich. Die echte Lösung ist deshalb, den ganzen Sumpf auszutrocknen.“

Viele in Israel schockt die Gewalt unter Israelis mehr als der Gaza-Krieg

Dass die moralische Hemmschwelle derart gesunken ist, schockiert viele in Israel fast mehr als der neue Gaza-Krieg, ist es doch bereits der vierte in zwölf Jahren. Das Ausmaß an Gewalt zwischen den beiden größten Bevölkerungsgruppen Israels ist neu, der Hass, der sich entlädt, erschreckend.

Wie dünn das interkonfessionelle Band ist, das durch immer neue Konflikte ohnehin über Jahrzehnte auf eine harte Probe gestellt wurde, zeigt sich nun: Dass es gerade in gemischten Städten wie Rahat, Ramla und Nazareth zu den schlimmsten Übergriffen kam, macht deutlich, wie kurz der Schritt von vordergründig freundschaftlichen nachbarlichen Beziehungen hin zu einem möglichen Bürgerkrieg ist.

Über Generationen weitergegebene, gegenläufige Erzählungen von Massakern und Pogromen sowie die mannigfaltigen Vertreibungserfahrungen von Holocaust-Überlebenden wie Palästinensern liefern dabei beiden Seiten schlüssige Narrative für Aufwiegelung zum Hass.

Der Kontakt zwischen jüdischen und arabischen Israelis im Alltag ist gering

Dieser Hass ist auch das Ergebnis der weitgehenden Abwesenheit von Angehörigen der anderen Seite im Alltag. Gemischte Schulen sind selten, und die zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich für ein friedliches Zusammenleben beider Bevölkerungsgruppen einsetzen, sind eine kleine Minderheit. In den 1980er und 1990er Jahren gab es noch mehr Kontakt auf Augenhöhe zwischen Arabern und Juden in Israel.

Aber noch etwas legen die konfessionell und ethnisch aufgeladenen Krawalle deutlicher denn je zutage: Das Einwanderungsland Israel hat tiefe soziale Bruchlinien. Auf jüdischer Seite finden sich viele Misrahim unter den Randalierern, Enkel arabisch-jüdischer Einwanderer der 1940er und 1950er Jahre aus Nordafrika beispielsweise. Auf der sozialen Leiter stehen sie ganz weit unten – ebenso wie viele der israelischen Palästinenser, die vergangene Woche Geschäfte jüdischer Besitzer angriffen und Synagogen.

Anklage wurde bisher ausschließlich gegen arabische Israelis erhoben

Auf Seiten der israelischen Palästinenser kommt das Gefühl hinzu, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden. Die Verabschiedung des so genannten Nationalstaatsgesetzes 2018 sorgte dafür, dass Arabisch als Amtssprache abgeschafft und das Land als „Nationalstaat des jüdischen Volks“ definiert wurde. Seither ist das Gefühl gewachsen, nicht dazuzugehören.

Das wird verstärkt durch Entscheidungen wie die der Staatsanwaltschaft zu Wochenbeginn, wegen der Ausschreitungen 116 Anklagen zu erheben – und zwar ausschließlich gegen arabische Israelis, keine einzige gegen einen jüdischen. Die Verlegung ganzer Kompanien der Grenzpolizei aus dem Westjordanland nach Israel zeigt, dass künftig auch im Innern mit Mitteln vorgegangen werden könnte wie sie bislang nur in den besetzten Gebieten angewendet wurden.

Auch das gilt es zu berücksichtigen, wenn nun wieder über diplomatische Lösungen gesprochen wird. Viele deutsche Außenpolitiker neigen noch immer dazu, Israel und die palästinensischen Gebiete durch die Linse der 1990er Jahre mit den Oslo-Verträgen und einer Zweistaatenlösung als Nahziel zu betrachten.

Doch die Veränderungen seitdem könnten radikaler nicht sein, gesellschaftlich wie politisch: Brachten es beim historischen Wahlsieg Yitzak Rabins 1992 dessen Arbeiterpartei und ihre linken Verbündeten auf 56 Plätze in der Knesset, stellt die einst stolze Avoda heute noch sieben Abgeordnete. Das Friedenslager, das in den 90er Jahren eine relevante Größe war, ist faktisch tot. Hinzu gekommen sind hunderttausende Neubürger aus der früheren Sowjetunion, die mit den linken Idealen der Gründergeneration von 1948 wenig anfangen können.

Sie und die arabisch-jüdischen Bevölkerungsgruppen sozial und kulturell ebenso zu integrieren wie die oft auch bürgerrechtlich benachteiligten israelischen Palästinenser ist die Aufgabe, vor der die Post-Oslo-Politikergeneration heute steht. Nur eine wirkliche jüdisch-arabische Partnerschaft in diesem Sinne, in einem Staat mit gleichen Rechten für alle Bürger, kann die jetzt sichtbar gewordenen, tiefen Risse in der israelischen Gesellschaft heilen. Ohne ein Ende der Besatzung wird das kaum gelingen.

Markus Bickel

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