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Die designierten SPD-Chefs Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans vor dem Willy-Brandt-Haus.

© AFP

Walter-Borjans und Esken polarisieren: Der „Robin Hood“ und die Digital-Expertin haben sich nur Zeit erkauft

Ein langer SPD-Selbstfindungsprozess geht zu Ende – Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans sollen an die Spitze. Doch ihre Gegner geben keine Ruhe.

Sie haben es geschafft. An diesem Freitag, am frühen Nachmittag, werden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans ganz oben angekommen sein: Der SPD-Bundesparteitag in Berlin wird sie dann zur neuen Doppelspitze der Partei wählen. Beim Basis-Votum Ende November erhielt das Duo 53 Prozent der Stimmen, am Donnerstag wurden sie einstimmig vom Parteivorstand nominiert. Jetzt fehlt nur noch die offizielle Bestätigung einer Mehrheit der 600 Delegierten.

Damit schreiben die Bundestagsabgeordnete aus dem baden-württembergischen Calw und der ehemalige NRW-Finanzminister ein Stück Parteigeschichte. Noch nie in mehr als 150 Jahren wurde die SPD von einem Team aus Mann und Frau geführt. Läuft alles nach dem Willen der Parteistrategen, dann geht mit der Wahl der neuen SPD-Chefs nicht nur ein sechsmonatiger Selbstfindungsprozess zu Ende – Esken und Walter-Borjans sollen der deutschen Sozialdemokratie auch einen neuen Schub geben.

Was sich in der SPD in den Tagen vor dem Parteitag abgespielt hat, erinnert allerdings weniger an Erneuerung und Aufbruch, sondern mehr an das alte Gezerre zwischen den Flügeln und Machtzentren der Partei.

Von Gewinnern zu Getriebenen

Noch bevor Esken und Walter-Borjans überhaupt offiziell ins Amt gewählt wurden, durchlebten sie bereits die Höhen und Tiefen, wie sie viele ihrer Vorgänger ebenfalls kennenlernen mussten. Die neuen Parteichefs wechselten innerhalb weniger Tage in die unterschiedlichsten Rollen. Sie waren die strahlenden Sieger, gaben die Kämpfer, wurden zu Getriebenen und versuchten sich schließlich als Brückenbauer. Es sei „eine lebhafte Woche“ gewesen, sagt Esken.

Als glückliche Gewinner standen die beiden am vergangenen Samstag auf der Bühne des Willy-Brandt-Hauses. Sie wurden bejubelt, umarmten sich, Esken streckte kämpferisch die Faust in die Luft. Sie hatten Vizekanzler Olaf Scholz und dessen Ko-Bewerberin Klara Geywitz klar mit 53 zu 54 Prozent geschlagen, die Kandidaten des Parteiestablishments abgestraft. Viele sahen die SPD damit bereits auf dem Weg steil nach links – und möglicherweise schnell raus aus der Groko.

Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken jubeln nach Bekanntgabe der Stimmergebnisse. (Archivbild)
Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken jubeln nach Bekanntgabe der Stimmergebnisse. (Archivbild)

© imago images/photothek/Thomas Trutschel

Doch von dieser Stimmung war nur drei Tage später nicht mehr viel übrig. Keine der zentralen Forderung, die Esken und Walter-Borjans in ihrer Kampagne für den Vorsitz aufgestellt hatten, schienen beim Parteivorstand auf offene Ohren zu treffen. In der ersten Form des Leitantrags für den Parteitag kamen Forderungen wie 12 Euro Mindestlohn oder ein höherer CO2-Preis schlicht nicht vor. Auch die von Esken und Walter-Borjans versprochenen Nachverhandlungen des Koalitionsvertrags mit CDU und CSU tauchten in dem Papier des Vorstands nur noch als „Gespräche“ mit der Union auf.

Anhänger wie Gegner des neuen Führungsduos fragten sich: Hatte das alte Parteiestablishment, die Strippenzieher aus Vorstand und Bundestagsfraktion, die designierten Parteichefs bereits eingenordet? War der Neuanfang schon gescheitert, bevor er richtig begonnen hat? Die Revolution in der SPD abgeblasen?

„Nicht die reine Lehre“

Esken und Walter-Borjans wollten das nicht auf sich sitzen lassen. Sie gingen am Donnerstag in die Offensive und erreichten einen Teilerfolg. „Wir haben eine sehr lebhafte Sitzung des Parteivorstands hinter uns“, sagte Esken nach dem Treffen mit der Parteispitze. Sie hätten mit Vorstand und Präsidium um einen „Kompromiss-Leitantrag“ gerungen. Der enthalte zwar „nicht die reine Lehre“. Aber: „Es geht in die richtige Richtung und deswegen sind wir sehr zufrieden damit.“

Die Forderung nach einem 12-Euro-Mindestlohn ist auf Drängen der beiden jetzt Teil des Leitantrags – allerdings mit der Einschränkung „perspektivisch“. Auch fordert der Parteivorstand nun eine Erhöhung des CO2-Preises, während zuvor nur vage von einem „sozial gerechten und wirksamen CO2-Preis“ die Rede war.

[Mehr zum Thema: Über alle Entwicklungen auf SPD-Parteitag hält Sie unser Liveblog auf dem Laufenden]

Und das Groko-Aus? Das fordern inzwischen nur noch Parteilinke wie die Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis, die beim Parteitag einen entsprechenden Antrag einbringen will. Auch die ehemalige Berliner Juso-Chefin Franziska Drohsel will das. Esken und Walter-Borjans sind inzwischen deutlich auf Abstand gegangen zu dieser Position.

Im parteiinternen Wahlkampf hatten sie mit der Forderung nach dem Ausstieg aus der Koalition zumindest stets kokettiert – und bei den Groko-Gegnern in der Partei wohl nicht ganz unfreiwillig den Eindruck erweckt, sie würden die SPD schnell aus der Koalition führen. Esken hatte ein „Update“ des Koalitionsvertrags gefordert und sah „eigentlich keine Chance“ mehr für eine weitere Zusammenarbeit mit der Union. Sollten CDU und CSU in der Klimapolitik nicht auf die SPD zugehen, werde Esken als Parteichefin „den geordneten Rückzug vorschlagen“, versprach sie.

Walter-Borjans betonte nun am Donnerstag, der Groko-Exit sei „kein Selbstzweck“. Die Botschaft: Man werde zwar nicht „ohne Wenn und Aber“ in der Regierung bleiben, aber den sofortigen Rückzug antreten wolle man auch nicht. Stattdessen gehe es darum, Brücken zu bauen in der gespaltenen Partei, zwischen Gegnern und Befürwortern der Groko. „Das ist uns gelungen“, sagte Walter-Borjans mit Blick auf den Leitantrag.

Mit dem „Kompromiss-Leitantrag“ hat sich das neue Führungsduo etwas Zeit verschafft.

Will die SPD die Schwarze Null kippen?

Grundsätzlich dürfte es den beiden neuen Vorsitzenden nicht ganz leichtfallen, die zerrissene SPD zu einen. Vor allem Esken polarisiert stark in der Partei.

Ihre Fans sagen ihr ein „hohes persönliches Engagement“ nach. „Unheimlich furchtlos“ trete sie auf. Eskens Kritiker erkennen darin hingegen Blauäugigkeit. Die Sozialdemokratin sei außerdem noch nie mit bemerkenswerten Wortmeldungen aufgefallen – weder in der Bundestagsfaktion, noch im baden-württembergischen Landesvorstand. „Deshalb wurde sie ja auch schnell abgewählt“, sagt ein Bundestagsabgeordneter aus dem Südwesten. Nur kurz, zwei Jahre, war Esken Vize-Chefin des Landesverbands. Bis heute ist die Unterstützung aus ihrer Heimat überschaubar.

Bei vielen Digital-Expertin genießt die gelernte Informatikerin hingegen einen guten Ruf – auch in der Opposition, weil sich Esken als Fachpolitikerin vehement gegen die anlasslose Vorratsdatenspeicherung einsetzte, für deren Einführung die SPD jedoch 2015 stimmte. Auch kämpfte Esken vergeblich gegen den Artikel 13 in der EU-Urheberrechtsreform, weil sie die Sorgen vieler Netzaktivisten vor einer möglichen Einführung von „Uploadfiltern“ teilte.

Eskens neuer Ko-Vorsitzender Walter-Borjans genießt in der Partei den Ruf des „Robin Hood“, der als Finanzminister von Nordrhein-Westfalen mit dem Kauf von gestohlenen „Steuer-CDs“ Jagd auf Steuerbetrüger machte. Die umstrittene Praxis wurde vom Bundesverfassungsgericht später abgesegnet. Als Verstoß gegen NRW-Landesgesetze wertete das dortige Verfassungsgericht hingegen Walter-Borjans Haushalte in den Jahren 2010, 2011 und 2012 – wegen zu hoher Neuverschuldung.

Neue Schulden machen, das würde Walter-Borjans am liebsten auch auf Bundesebene – auch das war eine Kernforderung im parteiinternen Wettbewerb: ein Plus an 40 bis 50 Milliarden Euro Investitionen pro Jahr. Doch Walter-Borjans Maximalförderung nach dem raschen Ende der Schwarzen Null, dem gesetzlichen Gebot des ausgeglichenen Haushalts, hat es nicht in den Leitantrag des Parteivorstands geschafft. Auch hier findet sich eine Kompromissformulierung – offen für Interpretationen: Es dürften „stetige Investitionen nicht an dogmatischen Positionen wie Schäubles schwarzer Null scheitern“.

Beim Parteitag werden Esken und Walter-Borjans nun in erster Linie Überzeugungsarbeit leisten müssen. Gegenüber den Jusos und andere treuen Anhängern werden sie die jüngsten Kompromisse mit dem alten Parteiestablishment verteidigen müssen. Ihren Gegnern werden sie die große Skepsis nehmen müssen, die den beiden nach wie vor aus dem konservativen Flügel entgegenschlägt.

Nach Monaten der Suche nach einer neuen Parteispitze und einer turbulenten Woche für die designierten Vorsitzenden, entscheidet sich bei diesem Parteitag, ob die SPD zerrissen bleibt wie zuvor oder einigermaßen vereint hinter der neuen Führung ins kommende Jahr geht.

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