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Kundgebung anlässlich des Mordes am Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke.

© Christoph Soeder/dpa

Gesellschaft in Schockstarre: Wo bleibt die Solidaritätsdemonstration für Lübckes Familie?

Teile der Gesellschaft driften in den rechten Wahn vom "Volkstod" ab. Die demokratische Mitte muss stärker als bisher dagegenhalten. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Frank Jansen

Die Gräben werden tiefer. In Deutschland gleitet ein Teil der Bevölkerung in den Hass ab. Hass auf Politiker, die Flüchtlingen helfen. Hass auf Journalisten, die sich um eine differenzierte Darstellung von Migration bemühen. Hass auf alles, was  dem eigenen, von Ängsten und Wut geprägten Weltbild entgegensteht. Wohin das führt, zeigt sich gerade jetzt wieder mit verstörender Wucht.

Der Mord an Walter Lübcke wird in den so genannten sozialen Netzwerken mit unsäglichen Parolen begrüßt. Dass womöglich ein Neonazi die Tat verübt hat, werden viele Feinde Lübckes mit perfider Befriedigung registrieren. Endlich fand sich ein Vollstrecker, der den CDU-Politiker dafür bestrafte, den Gegnern der Flüchtlingspolitik geraten zu haben, sie könnten Deutschland jederzeit verlassen.

Und eine weitere Eskalation ist zu befürchten. Nach Lübckes Tod gingen bei der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker und dem Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein, Morddrohungen ein. Beide Politiker haben die Attentate rassistischer Messerstecher überlebt, jetzt wächst die Gefahr eines weiteren Anschlags. Der Hass auf den toten Lübcke, auf Reker und Hollstein sind nur drei Anzeichen für die Verwerfungen in diesem Land. Nicht weniger gravierend sind die beklemmend hohen Umfragewerte für die AfD in den ostdeutschen Ländern, in denen im Herbst die Wahlen anstehen. In Brandenburg und Sachsen könnte die Partei stärkste Kraft im Landtag werden, in Thüringen steht sie knapp hinter der CDU.

Was ist los in diesem Land?

In den drei Ländern gebärdet sich die AfD besonders radikal, hier dominieren die Anhänger des völkischen Volkstribuns Björn Höcke. Seine Brandreden gegen Migranten hetzen viele Bürger auf. Sollte einer von ihnen zum Messer greifen oder zur Pistole, um einen missliebigen Politiker anzugreifen oder einen Journalisten der „Lügenpresse“ oder Migranten oder Muslime, hätten die rhetorischen Brandbeschleuniger gewirkt. Höcke würde sich, selbstverständlich, distanzieren.

Was ist los in diesem Land? Warum driften Teile der Bevölkerung in den rechten Wahn ab, die etablierten Politiker und ihre angeblichen Helfer in den Medien führten Deutschland in den „Volkstod“? Es fällt auf, dass nach dem Mord an Lübcke und gerade auch nach der Festnahme eines rechtsextremen Tatverdächtigen die Mitte der Gesellschaft in einer Art Schockstarre verharrt. Auf den Straßen tut sich nichts, keine Solidaritätsdemonstration für Reker, Hollstein, Lübckes Familie.

Obwohl Lübckes Tod eine grausige Zäsur darstellt – erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde ein Politiker bei einem mutmaßlich rechten Attentat getötet. Im Internet ist viel Bedauern zu lesen, auch Empörung, aber es fehlt der große Aufbruch - auf allen Ebenen. Auch zum Versuch, doch noch die Gräben zu den vielen „normalen“ Wutangstmenschen zu überwinden. Neonazis und Hardcore-Populisten wie Höcke erreicht man nicht. Die anderen Bürger womöglich schon.

Eine große Koalition der Willigen

Vielleicht lohnt es sich doch, der Anregung des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck zu folgen, „nicht jeden, der schwer konservativ ist, für eine Gefahr für die Demokratie zu halten und aus dem demokratischen Spiel am liebsten hinauszudrängen“, wie er kürzlich gesagt hat. Wenn Demokraten selbst Gräben vertiefen, betreiben sie letztlich das Geschäft der rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Hetzer. Denen ist nichts lieber, als dass sich immer mehr Menschen nicht nur von der etablierten Politik abwenden, sondern vom demokratischen „System“ an sich. Die Republik braucht eine große Koalition der Willigen, die im Netz, auf der Straße, aber auch in der Familie und bei den Arbeitskollegen demokratiefeindliche Tendenzen mit mehr Power kontert. Ohne aufzugeben. Gauck hat einst als Bundespräsident das passende Motto vorgegeben: „Euer Hass ist unser Ansporn“.   

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