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Religion: Ja, was glauben Sie denn?

Albert Schweitzer, Jesus Christ Superstar, Benedikt XVI.: Gott hat in Deutschland seit 1945 eine beachtliche Karriere gemacht.

Von Caroline Fetscher

Als sei die Welt in Ordnung, scheint die Sonne, leuchtet der Sonntag, tragen alle festliche Kleidung. Jonathan zuliebe, der konfirmiert wird, stapft die Familie geschlossen die Treppen der Backsteinkirche in Hannover herauf. Es riecht nach Blumenschmuck und Bohnerwachs. Auf hölzernen Bänken drängt sich die Gemeinde. Neugierig, zappelig sind die kleinen Schwestern. Neben ihnen hält sich die Jonathanmutter gerade, neben ihr lehnt sich der Jonathanvater zurück, seinen Arm hält die neue Ehefrau des Jonathanvaters fest. Sonntag, Sonne, Kirche. Kein Walkman, kein MP3-Player, kein Nintendo, kein Harry- Potter-Band, nachgerade Askese, Ruhe. In Jonathan aber gärt etwas. Unlängst hat sein Vater die Familie verlassen, gleich neu geheiratet und alle schockiert.

Gott in Deutschland, Sommer 2007. Orgelvorspiel, Eingangslied. In der Apsis bilden die Konfirmanden einen Halbkreis. „Liebe Konfis“, hebt die Pfarrerin kumpelhaft an, „ihr bestätigt heute das Ja eurer Eltern und Paten von der Taufe.“ Dass der Apostel Paulus keine Angst hatte, sagt sie, die Welt zu bereisen und als Christ zu sprechen. Jonathan mit Hippiehaartracht hört breitschultrig zu. Entschlossenheit zeigt sich, trotz pubertärer Scheu.

Jetzt erhält jeder der Jugendlichen seinen Konfirmationsspruch. „Jonathan, du hast einen Spruch aus dem Alten Testament gewählt“, spricht die Pfarrerin. „5. Buch Moses, Vers 32,4: Treu ist Gott und kein Böses an ihm.“ Jonathans Mutter verbeißt sich das Weinen. Treu, aha, wie ein Vater sein sollte. Seinen Spruch hat Jonathan jedoch gefunden, ohne bewusst an seinen Vater zu denken. Der sitzt da und strahlt. Er bezieht nichts auf sich. Ihn freut, dass der Sohn ein markantes Wort gewählt hat. Der Junge jedoch wünschte sich ganz klar nur eines. Er sehnte sich nach jenem himmlischen Vater, von dem im Konfirmandenunterricht die Rede war, dem, dessen Zuneigung nicht erlischt, der wie im Luthervers eine „feste Burg“ ist, unerschütterbar. „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen“, heißt es im Evangelium des Johannes. So wäre Gott der ideale Vater, der nicht trinkt, brüllt, schlägt, der das Kind nicht verlässt, es nicht für seine Bedürfnisse opfert, sondern Geborgenheit gibt und verzeiht, und sogar, stellvertretend durch Jesus, alle Schuld auf sich nimmt.

Auf seinem Grund ist das Verhältnis der Gläubigen zur monotheistischen Gottheit ein kindliches. Sigmund Freud sah hierin den Ursprung der Religion, den Quell aller sie antreibenden Wünsche und Illusionen. Es werde, schreibt Freud, „ein Schatz aus Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerungen an die Hilflosigkeit der eigenen Kindheit und der Kindheit des Menschengeschlechts“.

Im Deutschland des Jahres 1933 gehörten 95,5 Prozent der Bevölkerung zur protestantischen oder katholischen Kirche. Mit den Kirchen musste sich der Nationalsozialismus wohl oder übel arrangieren. Zwar notierte Goebbels im August 1933, nachdem er eine Geheimrede Hitlers am Obersalzberg gehört hatte, optimistisch in sein Tagebuch: „Wir werden selbst eine Kirche werden“, doch setzte man dann eher auf die Gleichschaltung der Kirchen. Staatstragende Protestanten, die besonders in Preußen eifrige Wähler der NSDAP waren, bereiteten insgesamt weniger Probleme als Katholiken. Die Bekennende Kirche blieb eine Ausnahmegruppe.

Vom gütigen Gott des Neuen Testaments war in Deutschland nach 1945 kaum etwas übrig. Städte lagen in Trümmern, doch Deutschland war auch seelisch ausgebombt. In einem Hirtenwort vom 23. August 1945 erkannten die katholischen Bischöfe die Mitschuld der katholischen Kirche an den Verbrechen des Nationalsozialismus an, und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland veröffentlichte Mitte Oktober 1945 sein „Stuttgarter Schuldbekenntnis“, zu dessen Unterzeichnern Gustav Heinemann gehörte. „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden“, heißt es dort. „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Zur Auslöschung des europäischen Judentums im Rassenwahn äußerten sich die Kirchen explizit erst Jahrzehnte später. Einstweilen ging es vor allem um die Abwehr von Schuld und Rache, man hoffe zu Gott, so schließt das Bekenntnis, dass der „Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will“, durch den „Geist des Friedens und der Liebe“ überwunden werde, damit „die gequälte Menschheit Genesung finden kann.“

Gott hatte der gequälten Menschheit in Deutschland, die zuhauf in unbeheizten Gotteshäusern hockte und hoffte, zunächst nur wenig zu bieten. Mit seinem Erfolgsdrama „Draußen vor der Tür“, das 1947 in Hamburg auf die Bühne kommt und als Hörspiel im ganzen, besetzten Land gesendet wird, spricht der junge Autor Wolfgang Borchert aus, was Millionen empfinden. Sein Held, der verwaiste Kriegsheimkehrer Beckmann, sieht Gott als einen Greis, an den keiner mehr glaubt. „Wo ist der alte Mann, der sich Gott nennt?“, schleudert Beckmann seinen Ruf in den Saal. Der Alte, der um seine „armen Kinder“ trauert, schlurft eine zerschossene Straße entlang. „Ach, du bist der liebe Gott“, ruft der Held ihm zu. „Wer hat dich eigentlich so genannt, lieber Gott? Die Menschen? Ja? Oder du selbst? ... Das müssen ganz seltsame Menschen sein, die dich so nennen, ... ich kenne keinen, der ein lieber Gott ist, du!“

Deutschland erlebt nach 1945, was Georg Lukacs zu Anfang des 20. Jahrhunderts die „transzendentale Obdachlosigkeit“ des Menschen im Industriekapitalismus nannte. So gut wie sämtliche Autoritäten waren der entsetzlichsten Verfehlungen schuldig geworden, das Vertrauen in die Welt ist zerstoben. Zugleich hält sich niemand selber für schuldig, wie der New Yorker Soziologe Saul Padover um das Ende des Zweiten Weltkriegs herum in Deutschland erfährt. Im Gespräch mit Hunderten von Funktionären, mit Hausfrauen, Soldaten und Kirchenvertretern stellt Padover fest: „Sie fließen über vor Selbstmitleid. Diese Larmoyanz ist eine mehr oder weniger unbewusste Methode zur Rechtfertigung des eigenen Mitläufertums.“

Nach dem Krieg ist Deutschland um 15 Millionen Männer ärmer. Vier Millionen sind gefallen, mehr als elf Millionen sehen sich in der Gefangenschaft der Alliierten. Von Gott verlassen, sucht die vaterlose Gesellschaft, ganz besonders die Jugend, verzweifelt nach Ethos, Sinn und – nach Vorbildern. Auch die Alliierten, vor allem die USA, forschen händeringend nach einem Vorbild, nämlich nach einem Vorzeigedeutschen, den sie ihren eigenen Leuten im Kalten Krieg präsentieren können. Sie kommen auf den frommen, gelehrten „Dschungeldoktor“ Albert Schweitzer, der über jeden Zweifel erhaben ist, und laden ihn, begleitet von einer beispiellosen Werbekampagne, 1949 – im Jahr der westdeutschen Republikgründung – zur Feier von Goethes 200. Geburtstag in den Gebirgsort Aspen nach Colorado ein. Amerika schließt den alten Herrn ins Herz. Noch auf dem Ozeandampfer, vor der Freiheitsstatue, geht eine Meute Journalisten an Bord, um den „heiligen Mann“ aus dem Urwald zu bestaunen. Bald prangt er auf den Titelblättern, die deutschen Korrespondenten in New York oder Washington kabeln die gute Nachricht in die Heimat: Hier feiert man einen Deutschen als „den besten Menschen der Welt“.

Sogar Marilyn Monroe bekundet ihre Sehnsucht, beim guten Doktor als Praktikantin zu helfen. Aus dem exzentrisch und exotisch wirkenden Organisten und Arzt, der seit 1913 ein „Negerspital“ in Lambarene in Zentralafrika unterhält, wird ein quasi religiös verehrtes Idol der Jugend. Seine so kolonial wie paulinisch geprägten Tropengeschichten erklettern Bestsellerlisten. Schweitzer sei „einer ganzen Welt Vorbild“, jubelt ein Rezensent 1954, er sei der Arzt eines kranken Jahrhunderts. Als humanistisches Universalgenie wird hier ein Mann entdeckt, der die Natur liebt und in der Ferne gewissermaßen schwarzen Schafen hilft. Sein Biograf Rudolf Grabs erklärt unumwunden: „Wir zögern nicht, ihn mit universalschöpferischen Geistern höchsten Ranges wie Goethe oder Leonardo zu vergleichen.“

Überhaupt eignen sich bürgerliche Kulturheroen besser dazu, die Gotteslücke und das Vatervakuum zu füllen, als der abstrakte Gott selber, wie er als „Präambelgott“ seit 1949 in der Verfassung steht. Exemplarisch ist eine Aussage des Literaturhistorikers Paul Wiegler, der 1948 erklärt, aus der Bedrängnis wende sich das Deutschland von heute dem zu, „was einst sein Kulturbesitz war.“ Goethe sei „das Palladium, das schützende Bildnis, das wir hinübertragen wollen in eine schönere Zukunft“. Junge Leute aller Konfessionen und Klassen orientieren sich gleichwohl lieber am praktischen Schweitzer, den auch Pfarrer und Lehrer lieben. Im Lauf der fünfziger und sechziger Jahre werden ebenso viele Straßen und Plätze nach Schweitzer benannt wie nach Konrad Adenauer, der über den Rüstungsgegner Schweitzer im Mai 1957 ein wenig ambivalent und latent grimmig anmerkt: „Albert Schweitzer ist für die allermeisten Deutschen ein Begriff, auch für die jungen Leute, man schätzt ihn sehr hoch, mit Recht. Was Albert Schweitzer gesagt hat, ist von einem Großteil der Deutschen als ein Evangelium hingenommen worden.“

Doch dieses Interimsevangelium findet lautlos sein Ende, als kritischere Stimmen laut werden, vor allem an den Universitäten. Mit dem kollektiven Aufbegehren der Studierenden gegen den „Muff von tausend Jahren“, gegen Kapitalisten, Imperialisten, Kolonialisten, schmilzt auch das Schweitzer-Idol weg. Die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main beginnen 1962. Autoritäten, Gott inbegriffen, erscheinen immer suspekter, je mehr man als junger Bürger erfährt. Furore macht 1963 das Trauerspiel „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth, uraufgeführt am Berliner Ensemble unter der Regie von Erwin Piscator. Vatikan und Papst geraten einmal mehr unter moralischen Beschuss. Im Stück erklärt der päpstliche Nuntius, man sei für die Juden nicht verantwortlich, die Untätigkeit des Klerus schreit zum Himmel. Der Eintritt der Amerikaner in den Vietnamkrieg fällt in das Jahr 1964, Albert Schweitzer stirbt 1965 in Afrika.

Im Jahr der Straße, 1968, formuliert Günter Grass, damals schon SPD-Wahlkämpfer, eine aufgewühlte Variante von Luthers Tedeum, sie klingt wie ein Echo auf den 20 Jahre alten Borchert-Text. Luthers „Herrgott dich loben wir“ verkehrt er in Verzweiflung: „Wen soll ich loben? / Danken wem? / Soll ich das Chaos loben? Den parzellierten Unsinn? / Wen?“

Unmerklich mäandern die Topoi, die der alte Mann aus Lambarene geliefert hat, in die Studentenbewegung hinein. Statt „Neger heilen“ heißt die Parole jetzt „Solidarität mit der Dritten Welt“, aus ethischen Ansätzen wie Schweitzers christlich inspirierter doch eher seins-philosophischer „Ehrfurcht vor dem Leben“ schält sich eine säkular geprägte, ökologische Bewegung heraus, in Teilen durchaus kompatibel mit dem grün-christlichen Motiv vom Bewahren der Schöpfung. Viele Geistliche sympathisieren mit der moralisch empörten Jugend, und die Evangelische Akademie in Bad Boll lädt sogar Rudi Dutschke zur Diskussion.

Mit der amerikanischen Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“ von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice, die diesen Sommer in Essen ein Comeback feierte, gesellt sich Anfang 1972 der jüdische Revolutionär Jesus aus Palästina als Langhaariger und Peacenik zu den Protestlern. Die Doppel-Langspielplatte kaufen Millionen, die zugleich Maria Magdalenas spirituelle Ratlosigkeit teilen, in der sie „I don’t know how to love him“ singt, mit lang hingezogenem „looove“.

In der DDR betrachtet man derlei Eskapaden mit Argwohn. Zwar ist Religionsfreiheit formal garantiert und wie im Westen sind Kirche und Staat strikt säkular getrennt. Religionsunterricht, Kirchensteuer gab es nicht. Der Konfirmation wie der Kommunion setzt das Regime die Jugendweihe entgegen. Atheismus ist Staatsdoktrin, Kinder von Christen haben häufig Nachteile, wie der Pfarrerstochter Angela Merkel in ihrer Schulzeit bewusst ist. 1989, im Jahr der Wende, sind gerade mal 25 Prozent der Bevölkerung evangelisch, fünf Prozent katholisch. Zur Wende steuern die DDR-Christen einen wesentlichen Teil bei, in der Berliner Gethsemanekirche, der Leipziger Nikolaikirche halten Oppositionelle Mahnwachen ab.

In den neunziger Jahren trägt der Feminismus religiöse Früchte, Maria Jepsen wird erste evangelische Bischöfin. 2000 Jahre Männerherrschaft der Kirche seien beendet, ist im ersten Überschwang zu hören. Fünf Jahre darauf entsteht die „Union progressiver Juden in Deutschland“ neben 83 orthodoxen, traditionellen Gemeinden. Heute sind in Deutschland knapp 30 Prozent der Bevölkerung evangelisch, es gibt ebenso viele Katholiken, etwa 200 000 Juden und rund dreieinhalb Millionen Muslime. In den urbanen Ballungsgebieten gewinnen deren Gemeinden an Einfluss und Größe. Gut ein Drittel der Bevölkerung ist konfessionslos und trägt nicht zu den jährlich neun Milliarden Euro Kirchensteuern bei. Diese Abgabe nennen auch die meisten als Grund für ihren Kirchenaustritt, weit weniger als die neuen Sekten oder die Ausbreitung naturwissenschaftlicher Weltbilder.

In den urbanen Ballungsgebieten lebt auch die Mehrheit der rund dreieinhalb Millionen Muslime Deutschlands. In manchen Regionen, etwa im Ruhrgebiet, gestalten Schulen bereits multireligiöse Einschulungsfeiern, um allen Kindern gerecht zu werden. Hodscha und Pfarrer segnen dort quasi Hand in Hand ihre jeweiligen Schützlinge. Abwechselnd wird etwa „Allah yolu yektir yok“ (Türkisch für: Gottes Weg ist der einzige) gesungen oder Psalm 23 rezitiert. Auf den Pausenhöfen müssen die Kinder erst einmal zurechtkommen mit dem neuen Wettbewerb.

„Gilt Fisch nur für Freitag? Fleisch in der Fastenzeit, ist das okay?“ Als ihre Kommunion näherrückt, tauchen im Leben von Verena Fragen auf, die ihre Eltern verwundern. Der großstädtische Teenager, Hip-Hop-Fan mit engen Jeans, scheint über Nacht fromm geworden zu sein. Richtig cool sei das bei ihren Mitschülern mit der Religion, findet Verena. In ihrer Klasse in Berlin-Neukölln haben die meisten anderen allerhand, was sie nicht hat: Ramadan und Bajram, Kopftücher und Speiseverbote, Moscheen, Islam-Rap, Imame, Hodschas. Auf welche Weise kann eine wie sie, eine mit Schinken auf dem Schulbrot, beweisen, dass ihr irgendetwas genauso heilig, wichtig, ernst ist wie den anderen?

Ihr werdet schon sehen, mag sie sich gedacht haben. Firmung heißt Festigung, ja, unsere Religion hat auch strikte Regeln, da gibt es Gebote, auch Verbote. Nur welche? Die Eltern müssen passen, ihr Kontakt zur Kirche erwacht jedes Jahr allein zur Weihnachtsmesse. Online, per Google, findet Verena ein Dutzend verschiedener Auskünfte. Vier Wochen vor Ostern ruft sie dann ihre Oma auf dem Land an. Wenigstens die sollte doch Bescheid wissen: Fängt Fasten Aschermittwoch an oder am Sonntag danach? Ach, sagt die Oma, das muss man nicht so genau nehmen. Der liebe Gott guckt nicht auf deinen Teller, der sieht auf dein Herz. So einen laschen Gott will das Mädchen nicht. Es fragt den Pfarrer, rührt kein Kuchenstück an. Und am Sonntag geht sie in die Kirche.

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