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Prager Frühling

© dpa

Prager Frühling: Das Ende eines Traums

Freie Wahlen und ein bisschen Kapitalismus mitten im Ostblock: Das versprach der Prager Frühling. Doch im August 1968 kamen die Panzer. Frantisek Cerny war tschechischer Radio-Journalist. Er erinnert sich.

Es war sehr listig, fast schon heimtückisch, wie die tschechoslowakische Führung im August 1968 mit Walter Ulbricht umging. Der Staatsratsvorsitzende der DDR war angereist, um die Genossen in der Tschechoslowakei wieder auf den richtigen Kurs zu bringen und sie dabei ein wenig zu maßregeln. Die Reformen des Prager Frühlings und die vorsichtige Demokratisierung missfielen ihm sehr. Denn gerade Kritikern in der DDR galt das Beispiel CSSR als möglicher Dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

Eigentlich wollte Ulbricht in die Hauptstadt kommen, aber das Politbüro in Prag hatte eine andere Idee: Treffen wir uns auf halbem Weg in Karlsbad. Der Hintergedanke war ganz klar. Karlsbad war voller Deutscher. DDR-Bürger konnten ohne Probleme in die Tschechoslowakei einreisen und sich dort mit ihren Bekannten und Verwandten aus der Bundesrepublik verabreden. Während Ulbricht nun neben Alexander Dubcek, dem Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei, über die Karlsbader Kolonnade spazierte, jubelten die Menschen am Wegesrand. Sie schrien nur einen Namen: „Dub-tzek“ und die Aussprache verriet ihre Herkunft. Das Politbüro hatte Ulbricht zeigen wollen, dass auch seine Landsleute vom Reformkurs in Prag begeistert waren. Die Demonstration war gelungen.

Ich arbeitete damals beim tschechischen Rundfunk und berichtete über das Treffen in Karlsbad. Als Redakteur war ich für die Auslandssendungen in deutscher Sprache zuständig. Eigentlich waren diese Sendungen für den Westen gedacht, aber wir hatten zunehmend mehr Hörer in der DDR, die gespannt verfolgten, was in der Tschechoslowakei gerade geschah. Im April 1968 hatte das Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei ein „Aktionsprogramm“ beschlossen. Eine zentrale Änderung war die Einführung innerparteilicher Demokratie. Es ging außerdem um die Privatisierung von kleinen und mittleren Betrieben. Bis dahin war ja jeder noch so winzige Friseurladen in der Tschechoslowakei verstaatlicht gewesen.

Auch die Zensur war im April abgeschafft worden. Jeder konnte schreiben, wie er wollte, und auch beim Fernsehen arbeiteten progressive Leute. Alles war plötzlich möglich. Die Leute interessierten sich vor allem für Politisches. Es wurde diskutiert wie nie zuvor – und so ist auch nachher nie wieder diskutiert worden. Am Arbeitsplatz, an den Schulen, auf der Straße, in den Gasthäusern.

Und ein immer wiederkehrendes Thema war die Frage: Wird die Sowjetunion das so laufen lassen?

Am 20. August war ich mit meiner Frau, unserer kleinen Tochter und einigen Freunden im Nachtzug auf dem Weg von Prag nach Nessebar in Bulgarien. Wir wollten in dem kleinen Ort am Schwarzen Meer Urlaub machen – ich ahnte, dass anstrengende Zeiten bevorstanden. Für Anfang September war der 14. Parteitag geplant, die gesamte KPC-Führung sollte neu gewählt werden. Und die moskautreuen Funktionäre, bis hinunter in die Bezirksgremien, hatten absolut keine Chance, ihre Posten zu behalten.

Es war nicht wie sonst, dass von der Führung eine Reihe von Kandidaten aufgestellt wurden und auf die Frage „Wer ist dafür, wer ist dagegen?“ alle natürlich dafür waren. Diesmal sollte richtig gewählt werden. Das war der Tag, den die Sowjets auf jeden Fall verhindern mussten. Die Kontrolle Moskaus über seine Satellitenstaaten im Ostblock stand auf dem Spiel. Der sowjetische Außenminister Andrej Gromyko fürchtete, dass die CSSR nicht nur die innerparteiliche Demokratie, sondern auch den Kapitalismus einführen und damit den Warschauer Pakt spalten würde.

Irgendwann stoppte der Nachtzug auf seinem Weg nach Bulgarien. Auf dem Nachbargleis stand ein anderer Zug. Er war voller Panzer und ungarischer Soldaten. Wir hingen aus dem Fenster und rauchten, die Ungarn auch. Aus Spaß riefen wir nach drüben: „Na Pragu?“ Und sie haben gesagt: „Da, da, da! Na Pragu.“ Ja, ja, sie würden nach Prag fahren. Wir hofften, es sei nur ein Witz.

Vielleicht war ich naiv. Aber ich war sicher nicht der Einzige, der dachte, eine Invasion wäre möglich, doch sie wäre ein riesiger Fehler. Und so tumb sind die Leute auch in Moskau nicht. Wenn ich im Fernsehen sah, was sich bei Straßenschlachten in Paris oder in West-Berlin abspielte, diese brachialen Gewaltausbrüche – dagegen war die Tschechoslowakei ein Land des Friedens. Warum sollte die Sowjetunion dort ihr Image aufs Spiel setzen?

Wir kamen also in Bulgarien an. Sofort prüfte ich, ob Radio Prag zu empfangen war. Es war die Blütezeit des Transistor-Radios, jeder hatte eines. Das war ein ziemlicher Kasten damals, nicht so klein wie heute. Der tschechische Rundfunk war gut zu hören und so erfuhren wir dann: Um Mitternacht sind Flugzeuge in Prag gelandet, Panzer fahren über die Straßen, die Staaten des Warschauer Pakts sind einmarschiert. Die ungarischen Soldaten hatten keinen Witz gemacht.

Wir dachten, dass wir die Intelligenz der Kreml-Führer überschätzt hätten. Jetzt haben sie sich doch in dieses fatale Abenteuer gestürzt, um dem Spuk ein brachiales Ende zu bereiten. Ich machte mir Sorgen um meine Kollegen. Aber nur solange, bis ich sie hörte, wie sie im Radio munter die Entwicklung kommentierten.

Alexander Dubcek und die gesamte Führungsschicht der damaligen Tschechoslowakei waren nach Russland entführt worden. Meine Landsleute leisteten derweil unbewaffneten Widerstand. Sie drehten zum Beispiel die Straßenschilder um. Da standen die Russen mit ihren Karten und schauten ratlos in alle Richtungen. Schon in unserem kleinen bulgarischen Ferienort hatten wir das Gefühl, die „Operation Donau“ würde zum Anfang vom Ende der Sowjetunion werden. Tatsächlich war die Invasion äußerst schlampig vorbereitet. Jeder Anfänger weiß doch, wie wichtig es bei solch einem Unternehmen ist, den Rundfunk unter Kontrolle zu bekommen – jedenfalls galt das damals.

Die Invasoren wussten zwar, wo in Prag das Rundfunkgebäude stand, überall im Haus waren Russen, aber es wurde trotzdem weitergesendet. Wenn sie die Redakteure ausfindig gemacht hatten, zogen die in Nebenstudios um. Der Rundfunk war die organisatorische Kraft des Widerstandes. Die Leute haben ihre Empfänger so intensiv genutzt, dass irgendwann die Batterien knapp wurden. Liebe Freunde, wurde im Radio aufgerufen, macht Sonderschichten, die Leute brauchen dringend Batterien! Prompt lagen wieder welche in den Geschäften. Das war funktionierende Marktwirtschaft.

Die Russen waren irritiert. Man hatte ihnen wohl gesagt, dass das wie 1956 beim Volksaufstand in Ungarn wäre, als Kommunisten an den Laternen aufgehängt wurden. Nichts dergleichen war der Fall. Innerhalb des Ostblocks hatten die Russen in der Tschechoslowakei den besten Ruf. Ich hatte eine russische Bekannte damals, die bei der Belagerung Leningrads durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg ein Bein verloren hatte. Sie hüpfte auf die Straße, stellte sich vor die Panzer und fragte auf Russisch: „Was treibt ihr hier für einen Unsinn?“ Da saß ein junger russischer Offizier auf seinem Panzer, und sie schrie: „Geht nach Hause. Dieses Land braucht keine Hilfe. Hier funktioniert alles. Wir haben hier als Russen die beste Gastfreundschaft genossen.“ Der Offizier nahm die Maschinenpistole, setzte sie sich auf die Brust und fragte: „Und? Soll ich mich jetzt erschießen?“

Während in Prag die Panzer rollten, war es für uns nicht einfach, wieder zurück in die Tschechoslowakei zu kommen. Viele Grenzübergänge waren für zivile Züge gesperrt. Wir mussten über Österreich zurückfahren. An manchen tschechischen Bahnhöfen sahen wir dann schon die Panzer stehen. Die sowjetischen Soldaten hatten allerdings die Anweisung, sich nach dem Einmarsch so schnell wie möglich zurückzuziehen und den Kontakt mit der Bevölkerung zu vermeiden. Ihre Kollegen aus Ungarn und Polen bewachten ohnehin nur die Grenzen zu ihren eigenen Ländern.

Im Nachhinein wurde bekannt, dass die Russen Befehl hatten, auf keinen Fall in die Menge zu schießen.Trotzdem gab es Tote. In der Stadt Liberec, wo der spätere Präsident Vaclav Havel damals Urlaub machte, wurde wie an vielen anderen Orten friedlich demonstriert. Dabei ist ein russischer Soldat so nervös geworden, dass er auf irgendein Fenster gefeuert hat und jemanden traf. Insgesamt sind nach dem Einmarsch etwa100 Menschen ums Leben gekommen. Jeder von ihnen ist ein Toter zu viel, doch wenn man bedenkt, dass eine halbe Million Soldaten über das Land hergefallen waren, relativiert das die Zahl der Opfer.

Mir taten die einfachen sowjetischen Armeeangehörigen sogar leid. Sie dachten, dass man sie als Befreier feiern würde. Stattdessen litten sie nun Hunger und Durst. Es gab damals ein Motto in der CSSR, das hieß: „Weder ein Stück Brot, noch ein Schluck Wasser.“ Einen bewaffneten Widerstand gab es nicht und damit für die Russen auch keinen Grund zu schießen. Die einzige Kampfhandlung fand vor dem Rundfunkhaus in der Vinohradska-Straße statt. Dort wurde ein Panzer angezündet, der ausbrannte.

Zwölf Jahre zuvor in Ungarn hatten noch Zivilisten zu den Waffen gegriffen und den Russen einen Grund geliefert, brutal loszuschlagen. Doch gerade dieses Beispiel des ungarischen Aufstands hat uns äußerst vorsichtig werden lassen. Es ist keinem Kommunisten ein Haar gekrümmt worden. Viele haben lediglich ihre Positionen verloren. In den „2000 Worten“, dem Manifest der Schriftsteller und Intellektuellen, hieß es nicht, „schickt die Kommunisten nach Hause“. Da wurde nur gesagt: Seid aktiv und wenn ihr seht, dass die Leute, die euch regieren, das schlecht gemacht haben, dann wählt sie ab. Es steht sogar der Satz drin: Gönnt ihnen eine hohe Pension, damit sie Ruhe geben.

Bis heute meinen manche meiner Freunde, dass der Sozialismus mit „menschlichem Antlitz“ nur ein Traum ist, undurchführbar. Ich glaube, das ist eigentlich noch nicht bewiesen. 1968 hatten wir Rudi Dutschke zu einer Diskussion an die Universität in Prag eingeladen. Er warf uns vor, dass wir uns Illusionen machten, über die sogenannte bürgerliche Demokratie und den Pluralismus und dass wir eigentlich nichts Neues wollten, sondern eine Art Rückkehr zu den Verhältnissen der Vorkriegsrepublik anstrebten.

Die Leute machten sich ihr Bild vom Westen anhand des Neckermann-Katalogs. Dutschke fand, dass das kein revolutionärer Aufbruch war, wie ihn die Demonstranten im Westen forderten. Aber er war damals schon sehr beeindruckt, wie viele unterschiedliche Menschen sich engagierten, Rentner, Arbeiter, Beamte, nicht nur Studenten. Das, was er wollte, mit seinen Ideen zu den einfachen Leuten durchzudringen, das geschah hier.

Es gab und gibt auch Stimmen, die sagen, dieser ganze Prager Frühling sei doch nur ein Machtkampf zwischen zwei Flügeln innerhalb der Partei gewesen. Die bösen Kommunisten gegen die etwas weniger bösen. Wenn das tatsächlich so gewesen wäre, warum hat die Sowjetunion dann ihr ganzes Ansehen aufs Spiel gesetzt? Die Invasion der Tschechoslowakei war der größte Panzeraufmarsch seit der Schlacht am Kursker Bogen gegen die Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Darauf können wir eigentlich stolz sein. Die Sowjetunion hatte offenbar den Eindruck, dass man den Prager Frühling mit allen Mitteln unterdrücken muss, weil er im Grunde viel gefährlicher war, als die Aufstände in Ungarn, Polen oder in Berlin in den 50er Jahren.

Am 29. August meldete sich Dubcek über das Radio und verkündete mit brüchiger Stimme, dass man das Moskauer Protokoll habe unterzeichnen müssen, in dem unter anderem ein zeitweiliger Aufenthalt sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei nachträglich legalisiert wurde. Noch in der Nacht des Einmarsches hatte die komplette CSSR-Führung den Einmarsch als illegal bezeichnet. Wir waren ungeheuer enttäuscht. Aber ich habe mich auch gefragt: Was hättest du an Dubceks Stelle gemacht?

Vielleicht war er zu dem Schluss gekommen, dass das die einzige Möglichkeit ist, etwas von dem zu retten, was zuvor erreicht worden war? Und da ist noch etwas, das die Leute heute nicht bedenken: Dubcek war kein Antikommunist. Er und Breschnew waren im Grunde Leute, die das gleiche Ideal verfolgten, das einer sozial gerechten Gesellschaft. Das war kein Freund-Feind-Verhältnis. Dubcek ist in der Sowjetunion aufgewachsen. Und Breschnew war ein Gefühlsmensch. Er wird gesagt haben: „Sascha, wir wollen doch nicht den imperialistischen Kapitalismus. Sascha, das musst du begreifen!“ Ich hielt und halte Dubcek für keinen großen Denker oder Strategen, aber ich halte ihn für einen grundanständigen Menschen. Wenn so jemand in einer so hohen politischen Position sitzt wie er damals, dann ist das schon ein Wunder.

Als ich aus dem Urlaub in Bulgarien zurück war, habe ich dort weiter gemacht, wo ich vorher gearbeitet hatte. Es wurde auch im Herbst 1968 noch im Geiste der Reformen gesendet. Es lief ja in der Übergangszeit bis zum Frühjahr 1969 weiter wie bisher. Es gab immer noch keine Zensoren, aber es gab eine Art Selbstzensur. Die folgte der Überlegung: Wir dürfen nicht zu sehr reizen. Wir müssen jetzt taktischer vorgehen, damit wir etwas erreichen können. Von heute aus betrachtet war das ein Fehler. Wir haben gar nichts erreicht. Sicher, ich hätte emigrieren können. Das wollte ich aber nicht.

Man belegt in der Geschichtsschreibung Epochen mit Etiketten wie ’68, Paris, Berlin, Prager Frühling. Aber man darf eines nicht vergessen: Darunter läuft das normale Leben. Die Leute sind glücklich oder unglücklich, krank oder gesund, verliebt oder nicht. Wir hatten auch nach dem 29. August immerhin noch Reisefreiheit. Wir wollten, dass das so bleibt.

Wir dachten, wir müssten nur durchhalten und könnten vielleicht noch etwas in die neue Zeit retten. Bis Dubcek im April 1969 entmachtet wurde, später nach Bratislava abkommandiert wurde, um dort Forstgeräte zu warten. Gustav Husak kam an die Macht. Da begann das, was man paradoxerweise Normalisierung nennt. Die Verhältnisse vor dem Prager Frühling sollten wiederhergestellt werden.

Wir Journalisten sollten dabei mitmachen. Ich hätte einen Text unterschreiben können, der etwa Folgendes besagte: Viele Journalisten haben den Prozess der sogenannten Demokratisierung und die Reformen unterstützt, haben nun aber eingesehen, dass sie sich geirrt haben und wollen das jetzt wiedergutmachen. Wer unterzeichnete, hatte eine Chance weiterzuarbeiten. Ich habe das nicht getan. Das war im späten Frühjahr 1969. Da bekam ich dann Berufs- und Reiseverbot. Für die nächsten 20 Jahre.

Aufgezeichnet von Johannes Gernert

Frantisek Cerny

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