zum Hauptinhalt
Singen für Hitler: Die musikbegeisterte Eva Sternheim-Peters führt die Jungmädel mit dem Akkordeon an. In ihrem Buch "Habe ich denn allein gejubelt. Eine Jugend im Nationalsozialismus" setzt sie sich mit ihrer eigenen Verführbarkeit im Nationalsozialismus auseinander. Ein Thema, über das Deutsche nach 1945 lieber schwiegen.

© Privatarchiv Eva Sternheim-Peters

Eine Jugend im Nationalsozialismus: Habe ich denn allein gejubelt?

Eva Sternheim-Peters (90) analysiert in ihren Erinnerungen ihre eigene Verführbarkeit durch die Nazis. Jetzt ist das Buch wieder erschienen. Eine Leseprobe.

Das Echo war groß, als der Tagesspiegel im April über Eva Sternheim-Peters und ihr Buch "Habe ich denn allein gejubelt? Eine Jugend im Nationalsozialismus" berichtete. Ebenso groß war das Unverständnis, dass so ein wichtiges Buch - es war erstmals 1987 erschienen, stets in geringer Auflage in kleineren Verlagen - nur noch in Restexemplaren zu haben sein sollte. Auch diese persönlichen Restexemplare waren an dem Abend vergriffen, als Eva Sternheim-Peters im Tagesspiegel-Verlagshaus am Askanischen Platz aus ihrem Buch las und mit den Zuschauern diskutierte.

Eine Wiederveröffentlichung war aufgrund des Tagesspiegel-Berichts und der vielen Leserinnen und Leser, die sich daraufhin direkt an Eva Sternheim-Peters gewandt hatten, zum Zeitpunkt der Lesung bereits angebahnt worden und nun legt der Europa-Verlag das Buch neu und in noch einmal erweiterter Fassung auf. Darin berichtet Eva Sternheim-Peters, Jahrgang 1925, offen und ehrlich von ihrer eigenen Verführbarkeit durch die Nationalsozialisten, deren Herrschaft sich eben nicht nur auf Befehl und Gehorsam stützte, sondern auf eine Begeisterung und Willigkeit, von der die allermeisten Deutschen nach 1945 nichts mehr wissen wollten.

Eva Sternheim-Peters dagegen berichtet bewusst über den Glanz, das Gemeinschaftsstiftende, Progressive, die befreienden Momente für ein Mädchen, das in der deutschen Provinz, in der Enge des katholisch geprägten Paderborn aufwuchs. Ihre Erinnerungen sind keine Apologetik, sondern eine Analyse, die den gefährlichen Reiz des NS-Systems verständlich machen soll - und mithelfen will, eine Wiederholung zu verhindern. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Europa-Verlags veröffentlichen wir hier eine Leseprobe, in der es um Erfahrungen von Eva Sternheim-Peters in der NS-Organisation "Bund deutscher Mädel" (BDM) geht.

Der Schein in den Hütten (Kampfgefährtinnen – Kulturträgerinnen)

»Alle kleinen Sorgen sind nun ausgemacht, in die Hütten ist der Schein gedrungen. Nun ist gefallen das Tor der Nacht vor der Freude, der Freude, da ist es zersprungen.«

(Hans Baumann, "Und die Morgenfrühe, das ist unsere Zeit")

Eva Sternheim-Peters: "Habe ich denn allein gejubelt? Eine Jugend im Nationalsozialismus", erschienen im Europa-Verlag.
Die in diesen Tagen im Europa-Verlag erschienene Neuausgabe von Eva Sternheim-Peters' Buch. Sie können es hier bestellen.

© promo

Nach Erlass des Gesetzes über die Hitlerjugend vom Dezember 1936 glichen sich die Mitgliederzahlen von HJ und BDM mehr und mehr dem Geschlechterverhältnis an. Ende 1939 betrug die Zahl der in Jungmädelbund, BDM und BDM-Werk »Glaube und Schönheit« erfassten zehn- bis 21-jährigen Mädchen 4,2 Millionen, die der ebenfalls diesen Jahrgängen angehörenden Führerinnen etwa 400.000.

Die »größte deutsche Mädchenorganisation aller Zeiten« erreichte Bevölkerungskreise, deren Töchter niemals zuvor von »jugendbewegten« Aktivitäten erfasst worden waren. Heute kann sich kaum noch jemand vorstellen, welch ein revolutionäres Ereignis beispielsweise ein von der Untergausportwartin im Landkreis Paderborn angesetzter Sportnachmittag für die Mädchen eines abgelegenen katholischen Dorfes bedeutete, denen niemals zuvor Vergleichbares angeboten worden war.

Die um die Jahrhundertwende entstehende Wandervogelbewegung war eine reine Jungenbewegung. Nach endlosen Auseinandersetzungen über die »Mädchenfrage« (und die »Judenfrage«) spaltete sich der Wandervogel in zahlreiche Untergruppen auf. Mädchengruppen und Jugendbünde, in denen auch Mädchen aufgenommen wurden, gab es fast nur in größeren Städten.

Selbst in der Blütezeit organisierten Jugendlebens – Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre – bildeten Mädchen in politischen, konfessionellen und autonomen Jugendbünden und Jugendgruppen eine zahlenmäßig unbedeutende Minderheit, die meist in Mädchengruppen zusammengefasst war. Nur in sozialistisch-proletarischen Jugendorganisationen gab es prinzipiell gemischtgeschlechtliche Gruppen.

Eva-Sternheim Peters über ihr Buch im Video

Viele Bünde, wie zum Beispiel die von Eberhard Köbel am 1. November 1927 gegründete »Deutsche Jungenschaft« oder der katholische Oberschülerbund »Neudeutschland«, nahmen prinzipiell keine Mädchen auf. Eine Gruppe des katholischen Oberschülerinnenbundes »Heliand« wurde in E.s Heimatstadt Paderborn erst einige Jahre nach dem Untergang des Dritten Reiches gegründet.

Im »Zeitalter der Volksgemeinschaft« hätte eine Mädchenorganisation, deren oberste Instanz die katholische Kirche, das heißt die männliche Geistlichkeit, bildete, E. auch kaum zum Eintritt bewogen. Ging es doch um die Aufhebung der Klassenschranken und die Überwindung der konfessionellen Spaltung. Der BDM, die »größte deutsche Mädchenorganisation aller Zeiten «, verdankte seine Entstehung nicht spontan und autonom angemeldeten Bedürfnissen einer »Mädchenbewegung« für Freiheit und Unabhängigkeit, sondern war das Ergebnis staatlicher Planung. 1939 wurde die für Jungen und Mädchen in gleicher Weise geltende »Jugenddienstpflicht« gesetzlich verankert. Ihre Wirksamkeit, insbesondere auf schulentlassene Mädchen, wird heute allerdings weit überschätzt.

Während zehn- bis 14-jährige Jungmädel den einmal wöchentlich stattfindenden Jungmädeldienst meist regelmäßig besuchten, ließ die »Dienstfreudigkeit« im BDM nach. Viele Mädchen älterer Jahrgänge verschwanden irgendwann (so zum Beispiel nach einem Umzug oder einer Umorganisation im BDM) aus den Mitgliederlisten der für sie zuständigen Einheit, sodass der Verstoß gegen die »Jugenddienstpflicht« niemandem auffiel. Andere begrüßten es, sich unter Hinweis auf die Jugenddienstpflicht am Abend aus dem Elternhaus entfernen zu können, und nahmen die im BDM gebotenen Sport- und Spielmöglichkeiten freudig wahr – oder gingen mit ihrem Freund ins Kino. Die »Jugenddienstpflicht« wurde im Übrigen auch von JM- und BDM-Führerinnen unterlaufen, die wenig Interesse an lustlos zum Dienst erscheinenden Mädchen hatten.

Fröhliches Beisammensein mit den Jungmädeln 1941. Eva Sternheim-Peters rechts in Uniform.
Fröhliches Beisammensein mit den Jungmädeln 1941. Eva Sternheim-Peters rechts in Uniform.

© Privatarchiv Eva Sternheim-Peters

E. erinnert sich, Bemühungen um ein Jungmädel aus Verhältnissen, die man heute »Randgruppe« nennen würde, enttäuscht aufgegeben zu haben. Zwar fehlte es in Führerinnenbriefen und Schulungsmaterial nicht an Berichten, in denen die gelungene Integration von Mädchen aus »schwierigen« Familienverhältnissen in die Gemeinschaft einer JM- oder BDM-Einheit geschildert wurde, aber im Prinzip waren in der Hitlerjugend nur Kinder und Jugendliche aus »ordentlichen deutschen Familien« erwünscht.

Nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt einer JM-Gruppenführerin besuchte E. einmal wöchentlich den gemischten Chor der Hitlerjugend – nicht um ihrer noch für ein weiteres Jahr geltenden Jugenddienstpflicht zu genügen, sondern aus persönlichem Interesse. Zwei oder drei Klassenkameradinnen nahmen an musischen oder sportlichen Arbeitsgemeinschaften des BDM-Werkes teil. Die übrigen hatten jeglichen Kontakt zur Hitlerjugend längst verloren, ohne dass es auch nur zu einer Verwarnung gekommen wäre. Im Gesetz über die Hitlerjugend war seit 1939 für solche Fälle zwar »Strafverfolgung« vorgesehen. Diese konnte aber nur »auf Antrag des Reichsjugendführers« eingeleitet werden, blieb also praktisch bedeutungslos.

Die komplette Tagesspiegel-Lesung mit Eva Sternheim-Peters als Video

Der Rahmen war festgelegt, die Erfassung staatlich verordnet, politische Ziele vorgegeben. Leitbilder für Mädchenfreundschaft, Mädchenkameradschaft und Mädchensolidarität, kulturelle Muster und Traditionen für weibliche Gemeinschafts- und Führungsformen sowie für die positive Identifizierung von Mädchen mit dem eigenen Geschlecht waren indes in der bürgerlich-patriarchalischen Gesellschaft kaum vorgeprägt.

Die wissenschaftliche wie volkstümliche Psychologie sprach Mädchen sowohl das Bedürfnis wie auch die Fähigkeit zu echter Freundschaft, Kameradschaft und Gemeinschaft ab. (Mädchenfreundschaften zerbrechen unweigerlich in einer Konkurrenzsituation, die »beste« Freundin der Witzblätter ist eher das Gegenteil, Kameradschaft ist eine zutiefst männliche Angelegenheit.)

In der gehobenen wie in der profanen Literatur, in Filmen und Theaterstücken wimmelte es von »männerbündlerischen«, latent homosexuellen Paradebeispielen für Männerfreundschaft, Männerkameradschaft und Männersolidarität in allen nur denkbaren Lebenslagen. Frauen glänzten in diesen Erzeugnissen durch Abwesenheit beziehungsweise dramaturgische Bedeutungslosigkeit, oder sie erwiesen sich als gefährliche Bedrohung männlicher Lebensformen. Weder die Frontkameradschaften des Ersten Weltkrieges noch Karl Mays Freundespaar Old Shatterhand und Winnetou, weder Schillers Bürgschaft noch Hölderlins Hyperion ließen sich auf weibliche Wesen übertragen.

Die Anknüpfung an den Kampf von Frauen in der Französischen Revolution und der Pariser Kommune, die Solidarität proletarischer Frauen in Streiks und Arbeitskämpfen sowie die bürgerlich-emanzipatorische Frauenbewegung, die die ihnen zugewiesene Geschlechtsrolle infrage stellte, waren als Vorbilder für den BDM selbstverständlich ausgeschlossen.

Eva Sternheim-Peters mit ihrem geliebten Akkordeon während der Elsass-Fahrt der Jungemädel 1941.
Eva Sternheim-Peters mit ihrem geliebten Akkordeon während der Elsass-Fahrt der Jungemädel 1941.

© Privatarchiv Eva Sternheim-Peters

Wenn sich im JM-Bund, im BDM und im weiblichen Arbeitsdienst Formen von Mädchenkameradschaft und weiblicher Gemeinschaftsdisziplin, weiblichen Selbstführungs- und Organisationsmustern herausbildeten, so entstanden sie autonom, ohne Vorbilder und ohne emanzipatorisches Bewusstsein, als natürliche und notwendige Folge des Zusammenlebens und Aufeinanderangewiesenseins. Mädchen machten die Erfahrung, dass bei vielen als »unweiblich« geltenden Tätigkeiten, wie zum Beispiel beim Aufbau von Zelten, Flicken von Fahrradreifen, Kartenstudium, Schleppen von Gepäck, Renovierung von Unterkünften, männliche Hilfe entbehrt werden konnte, denn in den »reinen« NS-Mädchenorganisationen gab es keine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung.

Das betraf ebenso die Jungengruppen des Deutschen Jungvolks und der Hitlerjugend. E.s Brüder versuchten in Lagern des Deutschen Jungvolks zum ersten Mal, Kartoffeln zu schälen oder einen Knopf anzunähen, und erzählten stolz von selbstgekochten und erfolgreich vor dem Anbrennen geretteten abenteuerlichen Gerichten wie »Negerschlamm mit warmem Eiter« (Schokoladenpudding mit Vanillesoße) oder »Zement mit Fliegen« (Grießbrei mit Rosinen).

Die Existenz von Mädchengruppen, die ohne männliche Begleitung Sport und Spiel, Lager und Fahrten durchführten und dabei auch noch Spaß hatten, wurde von männlicher Seite vielfach als Ärgernis, vielleicht sogar als Bedrohung empfunden. Interpretationen der Abkürzung BDM wie »Bubi drück mich – Brauch deutsche Mädel – Bedarfsartikel deutscher Männer« spiegelten männliches Unbehagen wider angesichts eines weiblichen Gemeinschaftslebens, das ihrer nicht zu bedürfen schien.

Eva Sternheim-Peters im Jahr 2015 in ihrem Arbeitszimmer in Berlin-Charlottenburg in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms.
Eva Sternheim-Peters im Jahr 2015 in ihrem Arbeitszimmer in Berlin-Charlottenburg in einer Seitenstraße des Kurfürstendamms.

© Doris Spiekermann-Klaas

"Habe ich denn allein gejubelt? Eine Jugend im Nationalsozialismus" von Eva Sternheim-Peters erscheint im Europa-Verlag und kann hier im Tagesspiegel-Shop bestellt oder in unserem Laden im Tagesspiegel-Verlagshaus am Askanischen Platz 3 in Berlin-Kreuzberg erworben werden.

Eva Sternheim-Peters

Zur Startseite