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Warum tun sich die Deutschen schwer, die Freude über Europa zu zeigen?

© Andreas Arnold/dpa

Gedenkjahr 2019: Die Unfähigkeit, dankbar für Europa zu sein

8. Mai, Tag des Kriegsendes: Deutschland meidet den Rückblick. Dabei häufen sich 2019 die Gelegenheiten, sich über das Erreichte zu freuen. Ein Kommentar.

Eine merkwürdige Scheu vor dem Gedenken hat Deutschland erfasst. Es läge nahe, sich an diesem 8. Mai besonders des Kriegsendes zu erinnern. In 18 Tagen ist Europawahl. In Sonntagsreden ist die EU die Lehre aus 1945. Doch in Berlin bleibt es verblüffend still. Nun gut, 74 Jahre sind kein rundes Datum. Das Phänomen gilt aber generell. Es fehlt auch eine breite Debatte, wie Deutschland den 80. Jahrestag des Kriegsbeginns am 1. September begehen will, obwohl wenig Zeit zur Vorbereitung bleibt.

Warum feiern die Deutschen nicht die Erweiterung von EU und Nato?

2019 ist reich an Gelegenheiten zum Gedenken. Und zur Dankbarkeit, was Europa erreicht hat. Doch die Deutschen ignorieren sie. Sie haben weder 15 Jahre EU-Erweiterung am 1. Mai noch 20 Jahre Nato-Erweiterung am 12. März begangen. Im Gegensatz zu vielen Partnern in EU und Nato, die die Daten als Glückstage feierten, mit Straßenfesten, Fahnen an Gebäuden und Wimpeln an Straßenbahnen.

Warum tun sich die Deutschen schwer, die Freude zu teilen? Nie zuvor waren sie ähnlich umringt von Freunden. Sie dürften sogar ein bisschen stolz sein. Als Zentralmacht Europas haben sie dieses Zusammenrücken in Frieden, Freiheit und wachsendem Wohlstand maßgeblich mitgestaltet. Woher kommt der Unwille, dankbar zu sein und aus dem Erinnern Zuversicht zu schöpfen? Europa könnte den Ansporn gebrauchen, um die nächsten Herausforderungen zu bestehen.

Wir sollten wirklich dankbarer für unser Europa sein. Ja, es hat Schwächen, ja, es ist teilweise ungerecht, ja, manche Krisen scheinen unüberwindbar... Doch trotzdem ist ein gemeinsames und friedliches Europa dies alles wert.

schreibt NutzerIn berlinhuepft

Keine Frage, dieses Europa hat Fehler: Euro-Krise, Migrationskrise, Brexitkrise. Zu viele Staaten verfolgen rigoros Einzelinteressen zu Lasten des Gesamterfolgs der EU, so als gehöre der nicht auch zu ihren nationalen Interessen. In mehreren Ländern stehen Grundwerte wie die Unabhängigkeit der Medien und der Justiz in Frage. Das schmälert die Erfolgsbilanz der EU-Erweiterung.

Die Verständigung mit Russland bleibt aus

Und die Erweiterung der Nato hat zwar Ostmitteleuropa befriedet, nach Jahrhunderten der Kriege um diesen Raum. Eine verlässliche Sicherheitsarchitektur mit Russland fehlt aber. Alle diese Einwände sind richtig. Sie sollten jedoch nicht verdecken, welche Fortschritte Europa im Vergleich zu 1939, 1945 und der Zeit des Kalten Kriegs gemacht hat.

Alexander und Margarete Mitscherlich haben den Deutschen in ihrem berühmten Essayband zum Umgang mit den NS-Verbrechen „Die Unfähigkeit zu trauern“ bescheinigt. Zeigen sie heute auch eine Unfähigkeit, dankbar zu sein?

Wie feiert Deutschland den 9. November: national oder europäisch?

Das Gedenkjahr läuft auf den 9. November zu. Man darf erwarten, dass die Deutschen 30 Jahre Mauerfall schon feiern werden. Nur wie? Unter Mäkeleien, wie ungerecht und gespalten das Land noch immer sei? Und niedergedrückt vom „Klima-Notstand“ und anderen Katastrophenängsten? Vor allem aber: Werden sie die Wendemarke als nationale oder als europäische Sternstunde feiern? Sich selbst, diese Einschränkung von der Unfähigkeit zu feiern darf man vielleicht doch machen, finden die Deutschen im Zweifel schon ziemlich gut – jedenfalls besser als andere Europäer mit ihren Macken. Doch 1989 war nicht in erster Linie eine deutsche Großtat. Der Siegeszug der Freiheit begann in Polen und Ungarn. Dafür sollten die Deutschen ewig dankbar sein.

Die Wegmarken lassen sich nicht trennen: Kriegsbeginn 1939 und sein Ende 1945; das an Wendepunkten reiche Jahr 1989 mit dem Runden Tisch in Polen, der Grenzöffnung in Ungarn, dem Mauerfall; die Öffnung der Nato 1999 und der EU 2004. Europa hängt auch an der Bereitschaft seiner Bürger, gemeinsam zu trauern, gemeinsam zu feiern und für das gemeinsam Erreichte dankbar zu sein.

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