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Kommunisten-Anhänger protestieren gegen die Erhöhung des Rentenalters. Moskau, den 2. September 2018. REUTERS/Sergei Karpukhin

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Gebrochene Versprechen: Wie Putins Rentenreform Russland bewegt

Viele Russen empfinden Putins Rentenreform als Verrat am Volk. Das könnte zum Wendepunkt in ihrem politischen Bewusstsein werden.

Russland wählt, Russland protestiert. Am 9. September sind viele Russen aufgerufen, bei Regional- und Kommunalwahlen abzustimmen. Für denselben Tag sind neue Protestaktionen geplant. Der Grund dafür ist die umstrittene Rentenreform, mit der das Renteneintrittsalter um fünf Jahre erhöht werden soll. Viele Bürger sehen das mit Blick auf die wachsende soziale Ungleichheit im Land als Verstoß gegen alte Versprechen - und als Verrat am Volk.

Es geht nicht nur um das Alter

Die russische Regierung plante, das Renteneintrittsalter von 55 auf 63 Jahre für Frauen und von 60 auf 65 Jahre für Männer zu erhöhen. Die Maßnahme sollte das demografisch bedingte Defizit des staatlichen Rentenfonds ausgleichen. Zunächst versuchte die Regierung das Vorhaben unbemerkt während der Fußball-Weltmeisterschaft zu präsentieren. Doch Russlands Bürger reagierten mit Protesten in vielen Städten, die größten in Moskau und Sankt Petersburg. Auf die Straßen gingen Anhänger der kommunistischen Partei ebenso wie die des Oppositionellen Alexej Nawalny.

Die Demonstranten erinnerten an Wladimir Putins Versprechen aus dem Jahre 2005: das Renteneintrittsalter nicht zu erhöhen, solange er Präsident ist. Der bekam zuletzt den Zorn der Bürger zu spüren: Die Zustimmung für Putins Arbeit sank in Umfragen des Instituts WZIOM von 76 auf 64 Prozent - der niedrigste Wert seit der Krim-Annexion 2014. Ende August verkündete in einer Rede ans Volk, Frauen nur bis 60 Jahre arbeiten zu lassen und soziale Präferenzen im Vorruhestand aufrechtzuerhalten. Vielen reicht dies allerdings noch nicht.

“Vor Putins Ansprache hatten wir noch Hoffnung. Aber wir wollen nicht aufgeben”, sagt Witalij Wasiljew. Vergangenes Wochenende organisierte der Aktivist, der in der Verwaltung einer Schule in Weliki Nowgorod arbeitet, mit anderen einen Massenprotest in der 200 Kilometer südlich von Sankt Petersburg gelegenen Großstadt.

Ziel sei es gewesen, er die Menschen aufzuwecken und die Wahlbeteiligung zu fördern, sagt Wasiljew. Das gleiche Ansinnen verfolgten auch die Demonstranten der sogenannten Allrussischen Protestaktion, zu der die Kommunisten in mehr als 40 Städten aufgerufen hatten. “Wir lassen den sozialen Terror der Regierung gegen das eigene Volk nicht zu!”, lautete das Motto. “Im Regional- und Staatsparlament hat die Partei Einiges Russland die Mehrheit”, sagt Wasiljew. “Das müssen wir ändern. Wir müssen die Mächtigen vertreiben, die ihr Volk ins Grab hinabziehen.”

Das späte Rentenalter, sagt Wasiljew, sei besonders schädlich für Dörfer und kleinere Städte in Russland. Weil ihre durchschnittliche Lebenserwartung bei 66 Jahren liegt,  schaffen es 60 Prozent der russischen Männer nicht bis Ruhestand. Die Arbeitslosigkeit der 50- und 60- Jährigen liegt bei über 16 Prozent. Bis zu 40 Prozent der Rentner arbeiten wegen der Armut auch im Ruhestand weiter. Die bescheidene Rente von nur 14.144 Rubel im Durchschnitt (180 Euro) ist für sie ein notwendiger Zuverdienst zum geringen Gehalt. “Jetzt wird uns auch dieses Geld weggenommen”, klagt Wasiljew.

Oppositionelles Kapital gestärkt

Am Sonntag wollen wieder Menschen gegen die Rentenreform auf die Straße gehen, vor allem Nawalny-Anhänger. Gleichzeitig versuchen die Kommunisten in einzelnen Regionen ein Referendum über die Reform zu initiieren.

Der unabhängige russische Politologe und Professor Dr. Dmitrij Gawra glaubt nicht, dass ein solches Referendum zustande kommt. “Mit einem eher geringen Protestpotential im Land ist dies nicht möglich”, erklärt er. Die Präsidentschaftswahl im vergangenen März, sagt Gawra, habe den ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag bestätigt: Putins Regime erhält die Zustimmung des Volkes, im Austausch für eine soziale Stabilität. Das Ziel der Oppositionellen sei nicht das Kippen der Rentenreform. Ihr Anliegen bestehe  darin, die Zweifel der Bevölkerung an der Umsetzung des Gesellschaftsvertrages zu vergrößern und gerade eigenes politisches Kapital vor den Wahlen zu stärken.

Putins Mehrheit bestehe meist aus älteren Menschen, Militärangehörigen und Beamten - und sei in hohem Maße von Sozialgeldern und Renten abhängig. “In den vergangenen 18 Jahren gab es noch keinen Fall, dass der Gesellschaftsvertrag in Frage gestellt wurde”, sagt Gawra. Mit der Rentenreform hätten diejenigen, die bislang für die “Machtpartei” abgestimmt hatten, einen Grund bekommen, ihn zu hinterfragen.

Soziale Spannung wächst weiter

“Die Rentenreform ist ein Wendepunkt für viele”, sagt Wasiljew. Vor vier Jahren hätten sogar Oppositionelle den “Krim-Anschluss” unterstützt, es schien, als habe Putin die gespaltene Gesellschaft vereinigt. “Jetzt wächst die Überzeugung, dass Putin nicht im Interesse des Volkes arbeitet, sondern im Auftrag einer schmalen Interessengemeinschaft”.

Anders als kommunistisch eingestellte Menschen habe er aber nichts gegen Kapitalismus und Reiche. “Solange das Land die Möglichkeit hat, sich zu entwickeln”, fügt er hinzu. Diese Möglichkeiten schrumpften jedoch von Jahr zu Jahr, während Putin erklärt, es gäbe keine Alternativen für die Erhöhung des Renteneintrittsalter. Weder eine progressive Steuerrate (statt 13 Prozent flat tax) noch eine zusätzliche Besteuerung des Öl- und Gassektors würden ausreichen. Dabei sind die Reallöhne in den vergangenen fünf Jahren der Statistikbehörde Rosstat zufolge um elf Prozent gesunken. Um überleben zu können, verdienen sich viele nebenher etwas hinzu. Schätzungen zufolge sollen bis zu 40 Prozent der russischen Bevölkerung in der Schattenwirtschaft tätig sein. Nun scheinen die sogenannten “Mai-Erlässe“, Putins Versprechen für Wirtschaftswachstum  und Sozialpolitik, nicht mit staatlichen Reserven finanziert, sondern durch die Opfer der Bürger. “Wir brauchen dringend Änderungen, zumindest lokal”, beharrt Wasiljew. Für den Wahltag am Sonntag meldete er sich als freiwilliger Beobachter an, damit die Wahlen so transparent wie möglich stattfinden.

Liudmila Kotlyarova

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