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Rodion Bakum strebt im Wahlkreis in Mülheim an der Ruhr bei der NRW-Landtagswahl für die SPD das Direktmandat an.

© Georg Ismar/Tagesspiegel

Geboren in Kiew, geflüchtet ins Ruhrgebiet: Wie der Krieg den „Kraft-Erben“ im NRW-Wahlkampf begleitet

22 Jahre lang vertrat Hannelore Kraft den Wahlkreis in Mülheim an der Ruhr. Nun will ihn Rodion Bakum erobern – ein SPD-Politiker mit besonderer Geschichte.

Für Rodion Bakum ist der Krieg immer dabei. So wie sein rotes Sofa, das im Wahlkampf sein Markenzeichen ist. Karl Lauterbach, Franz Müntefering, Kevin Kühnert und Hubertus Heil haben schon bei ihm vorbeigeschaut. „Ihr Arzt für unser NRW“, lautet sein Slogan.

Bakums Leben ist eine dieser SPD-Aufsteigergeschichten: „Mein Lebenslauf in Mülheim an der Ruhr begann 1993 in der Asylbewerberunterkunft im ehemaligen Schätzlein-Gebäude“, erzählt er. Der 31-Jährige will bei der Landtagswahl am Sonntag im Wahlkreis 64 nach 22 Jahren die ehemalige SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft beerben und nach schwierigen und von Konflikten begleiteten Jahren in der Mülheimer SPD das Mandat im nordrhein-westfälischen Landtag in Düsseldorf erringen. Mülheim gilt traditionell als SPD-Hochburg, landesweit aber könnte die CDU das Rennen machen.

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Der Mediziner wurde 1990 in Kiew geboren. Er und seine Eltern kamen 1993 als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Die Eltern sahen ihre Zukunft nicht in der Ukraine. „Und ein Aspekt, der wichtig war, war 1986 Tschernobyl“, erzählt Bakum. „Meine Tante bekam Schilddrüsenkrebs, hat Gott sei Dank überlebt, aber die Schilddrüse ist raus.“

Der Großvater kämpfte im Kaukasus gegen die Nazis

Es sei nicht einfach gewesen, als Juden nach Deutschland zu kommen, erinnert sich Bakum, während er sein Auto durch Mülheim steuert, den Kofferraum voll mit Plakaten und Flyern. „Mein Großvater hat im Kaukasus gegen Nazis gekämpft, als Angehöriger der sowjetischen Armee.“ Bis heute sei er sehr dankbar für die Aufnahme in Deutschland.

„Und heute kann ich für ein deutsches Parlament kandidieren.“ Dennoch ist er manchmal erschüttert über das gesellschaftliche Klima und den Hass gegen Politiker. Als Gesundheitsminister Lauterbach ihn im Wahlkampf besuchte, kam gerade heraus, dass Rechtsextremisten Anschläge oder seine Entführung geplant hatten. „Ich hatte im Vorfeld viel mit Polizei und BKA zu tun.“ Da werde einem schon mulmig.

Rodion Bakum vor dem SPD-Büro in Mülheim an der Ruhr.
Rodion Bakum vor dem SPD-Büro in Mülheim an der Ruhr.

© Georg Ismar/Tagesspiegel

An den Villen mit Blick auf die Ruhr fährt Bakum Richtung Zentrum, das von viel Leerstand geprägt ist. An der heimischen Stahlindustrie zeigt sich, welche Komplikationen im Kleinen der Krieg mit sich bringt: „Man muss traurigerweise sagen, dass die Industrie gerade ein paar Aufträge bekommen hat wegen des Krieges in der Ukraine, weil die ukrainische Stahlwerke nichts produzieren.“

Andererseits wurden hier in Mülheim Stahlrohre für die deutsch-russische Ostseepipeline Nord Stream 2 produziert – dem gingen im Stadtrat harte Debatten mit den Grünen voraus. Wäre der Auftrag abgelehnt worden, wären hier 600 Arbeitsplätze gefährdet gewesen, berichtet Bakum. Schließlich wurden die Rohre noch geliefert.

Wie die Industrie wettbewerbsfähig bleibe, auch in Sachen Energie, das seien Fragen, die die Menschen hier bewegten. Siemens hat hier noch einen großen Standort. Dazu kommen als Themen die Krankenhausversorgung und das große soziale Thema dieser Zeit, bezahlbarer Wohnraum. Selbst für ihn und seine Frau, die sich das leisten könnten, sei es schwer, eine größere Wohnung zu finden. Eigentlich müsse jeder Mensch sich Eigentum leisten können, „vor allem wenn wir in Richtung Rente denken“, findet Bakum.

„Ich hadere mit der Politik in der Ukraine“

Angekommen im SPD-Büro beim Bahnhof, setzt er sich auf das hier „geparkte“ rote Sofa. Ob er nicht mit der Russlandpolitik der SPD hadere? „Ganz im Gegenteil. Ich hadere mit der Politik in der Ukraine“, lautet die etwas überraschende Antwort. Er habe eine russische Großmutter, einen ukrainischen Großvater. Diese kulturelle Vermischung gebe es in den ehemaligen Sowjetstaaten oft – und das sei „ein Stück weit auch Teil des Konfliktes“.

Das beste Beispiel sei die Orangene Revolution von 2014, die hier im Westen sehr gefeiert worden sei: „Für die Menschen, die eine Herkunft wie meine Familie und ich haben, ethnisch gemischt, war das eine Katastrophe.“ Russisch aus der Landesverfassung zu streichen, das habe bedeutet, dass die Schüler in ukrainischen Schulen plötzlich kein Russisch mehr sprechen durften – obwohl fast alle in der Ostukraine russisch sprächen. Das habe Spannungen in der Gesellschaft verstärkt.

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Botschafter Melnyk sieht er kritisch

Die Politik in der Ukraine sei wahnsinnig kompliziert. Andrij Melnyk, den Botschafter der Ukraine in Deutschland, sieht Bakum sehr kritisch: „Als der Botschafter in Deutschland wurde, hat er in München das Grab von Stepan Bandera besucht.“ Der ukrainische Partisanenführer habe aber mit den Nazis kollaboriert, „hat Polen, Russen und Juden ermordet“.

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Nichts rechtfertige den Angriffskrieg Russlands, stellt er klar. „Man muss aber wissen, es gibt eine Historie davor.“ Und Mariupol sei wegen des dortigen rechten Regiments Asow für den russischen Präsidenten Wladimir Putin leider ein Schlüsselort mit hoher Symbolkraft für sein „Lügenkonstrukt von der neonazistischen Ukraine“, die er „entnazifizieren“ wolle.

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Auch im Wahlkampf wird Bakum gerade von älteren Bürgern immer wieder auf ihre Ängste angesprochen – die Zustimmung zu deutschen Panzerlieferungen ist hier nicht so groß, wie es in Berlin scheinen mag. Für den SPD-Politiker lautet die Schlüsselfrage: „Wie kriegen wir es in Zukunft wieder hin, eine Sicherheitsarchitektur in Europa zu schaffen, mit der wir in einer friedlichen Koexistenz mit den Russen leben können?“ Er wisse nicht, ob er das noch erleben werde.

Die Komplexität der Außenpolitik von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), auch wie er die Diplomatie nicht für tot erkläre und ständig abwäge, das ist für Bakum jedenfalls „kein Zaudern, sondern eine klare Haltung“

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