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Ein Schüler sitzt an einem Tisch in einem Klassenzimmer einer Grundschule in Costessey

© Joe Giddens/PA Wire/dpa

„Ganze Station von Kindern mit Covid-19“: Mehr Schüler mit schweren Verläufen in Londoner Kliniken – oder doch nicht?

Die Metropole kämpft mit einer Welle von Covid-19-Kranken, vor den Spitälern stauen sich die Krankenwagen. Die Lehrer sehnen sich nach einem langen Lockdown.

Das Coronavirus befällt in Großbritannien möglicherweise zunehmend Minderjährige. Laura Duffel, Oberschwester im King’s College Hospital in London, sagte der BBC, es würden immer mehr Kinder und Jugendliche in die Klinik gebracht, die schwere Verläufe der Krankheit durchmachten. Während der ersten Welle habe es das nicht gegeben, sagte sie. Sie habe „eine ganze Station von Kindern und Jugendlichen mit Covid-19“ zu betreuen, sagte sie. Es würden zudem immer mehr 20- bis 30-Jährige in ihr Krankenhaus eingeliefert, die schwere Symptome hätten, obwohl keine bekannten Vorerkrankungen vorlägen.

Ärzte bestritten, dass das Virus die Kinderstationen im ganzen Land zusätzlich unter Druck setzt. Russell Viner, Präsident des Royal College of Paediatrics and Child Health, sagte: „Kinderstationen sind im Winter normalerweise ausgelastet. Derzeit sehen wir keinen signifikanten Druck durch Covid-19 in der Pädiatrie in ganz Großbritannien.“ Die überwältigende Mehrheit der Kinder und Jugendlichen habe aktuell keine Symptome oder nur eine sehr leichte Erkrankung. „Die neue Variante scheint alle Altersgruppen zu betreffen, und bisher sehen wir keine größere Schwere bei Kindern und Jugendlichen.“

Ronny Cheung, ein beratender Kinderarzt am Evelina Children's Hospital in London, fügte hinzu: „Ich hatte diese Woche Bereitschaftsdienst in einem Londoner Kinderkrankenhaus. Covid-19 ist in Krankenhäusern weit verbreitet, aber nicht unter Kindern - und das wird von meinen Kollegen in ganz London bestätigt.“

Calum Semple, Professor für Kindergesundheit und Ausbruchsmedizin an der Universität von Liverpool, sagte, dass er mit Kollegen auf der Intensivstation gesprochen habe und „nicht einer von ihnen hat einen Anstieg von kranken Kindern gesehen, die auf die Intensivstation kommen und wir hören auch nicht von einem Anstieg der Fälle auf den Stationen“. In der PM-Sendung von BBC Radio 4 sagt er: „Wir sehen kein anderes Krankheitsspektrum bei Kindern, und schon gar nicht einen Anstieg der Fälle.“

Auch Liz Whittaker, eine beratende Kinderärztin am St. Mary's Hospital in London, sagte, dass „nur eine kleine Anzahl“ von Kindern, die positiv auf Covid getestet werden, eine schwere Krankheit entwickeln und diese im Moment „innerhalb der erwarteten Werte“ liegen.

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Unter dem Druck rasch steigender Corona-Infektionsraten auch unter Kindern und Jugendlichen müssen englische Schulen ihre Planung fürs neue Jahr komplett umstellen. Besonders für den Großraum London verändert der konservative Bildungsminister Gavin Williamson die Richtlinien beinahe täglich.

In der Metropole kämpfen die Krankenhäuser mit einer Welle von Covid-19-Kranken, die inzwischen über den Höchststand im April hinausgeht. Schon fordert die mächtige Lehrergewerkschaft NEU die Totalschließung aller Staatsschulen für mindestens zwei Wochen. Die Regierung verhalte sich rücksichtslos gegenüber der Gesundheit von Lehrerinnen sowie der gesamten Schulgemeinschaft, glaubt NEU-Chefin Mary Bousted.

Die Nachrichten im Kampf gegen Sars-CoV-2 klingen zunehmend verzweifelt. „Wir haben viel mehr Patienten als im März und April“, berichtet Professor Marcel Levi, Leiter des gewaltigen University College Klinikkomplexes in der Londoner Innenstadt.

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Auch vor anderen Spitälern in und um London stauen sich die Krankenwagen, weil nicht genug Betten zur Verfügung stehen. In der Hauptstadt stehe das Nationale Gesundheitssystem NHS kurz davor, vom Ansturm der Patienten überwältigt zu werden, warnen Experten schon seit Tagen.

Bildungsferne Familien leiden am stärksten unter Schulschließungen

Auf die Erfahrungen der Londoner Kolleginnen gestützt, warnt der Chef des Ärzteverbandes RCP den Rest des Landes vor den kommenden Wochen. „Da kommt auf uns alle eine neue Welle zu“, glaubt Professor Andrew Goddard.

Landesweit lagen die Neuinfektionen in der Woche bis zum Neujahrstag im Durchschnitt täglich bei 45 559 und damit um ein Drittel höher als in der Vorwoche. Dafür machen Fachleute vor allem die hochinfektiöse Mutation B117 des Coronavirus verantwortlich, die im Großraum London sowie in der südöstlich angrenzenden Grafschaft Kent erstmals im September auftrat. Für die Infizierten besteht nach bisherigen Erkenntnissen weder die Gefahr eines schwereren Verlaufs noch ein höheres Todesrisiko.

Die Gesamtzahl der an den Folgen einer Coronainfektion Verstorbenen liegt der Zählung des Gesundheitsministeriums zufolge bis Freitag bei 74.125; im Durchschnitt der vergangenen Woche starben täglich 561 Covid-19-Patienten. Pro eine Million Einwohner sind inzwischen 1089 mit einer Sars-CoV-2-Infektion gestorben; europaweit gab es anteilig nur in Belgien, Italien und Spanien mehr Tote zu beklagen.

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Die erfahrene Oberschwester einer Intensivstation vor den Toren Londons zieht den Vergleich mit der ersten Coronawelle im Frühjahr: Auch damals sei ihre Station mit Covid-19-Patienten komplett ausgelastet gewesen. „Es gab aber viel weniger Krankheitsfälle beim Personal.“ Warum das diesmal anders ist? „Weil vor Weihnachten die Schulen geöffnet waren.“

Eine Schule in Watton-at-Stone.
Eine Schule in Watton-at-Stone.

© REUTERS

Tatsächlich hat die konservative Regierung unter Premier Boris Johnson die Staatsschulen lange Zeit zur Priorität erklärt und Zweifler mit eindeutigen Statistiken unter Druck gesetzt: Kinder aus einkommensschwachen und bildungsfernen Familien leiden am stärksten unter der Schließung ihrer Bildungseinrichtungen.

Oft fehlen ihnen Computer zur Teilnahme am virtuellen Unterricht, bei Hausaufgaben können die Eltern kaum helfen, in Immigrantenfamilien kommen sprachliche Probleme hinzu. Zudem war lange umstritten, wie stark Kinder und Jugendliche zur Ausbreitung der Pandemie beitragen.

Politischer Druck

Im November zwang Minister Williamson den von Labour regierten Londoner Stadtbezirk Greenwich sogar mit der Androhung gerichtlicher Schritte dazu, die dortigen Primarschulen offenzuhalten. Unter dem Eindruck der neuen Infektionswelle muss der unglücklich agierende Politiker beinahe wöchentlich, zuletzt sogar binnen 48 Stunden, zurückrudern.

Am Mittwoch nutzte Williamson die Brexit-Sondersitzung des Unterhauses zur Ankündigung, Sekundarschüler vom 7. Schuljahr an müssten im Januar ausschließlich mit online-Unterricht vorliebnehmen. Eine Vielzahl von Primarschulen aber wollte die Regierung offenhalten, darunter auch in zehn von 33 Londoner Stadtbezirken.

Die Kriterien dafür, warum beispielsweise im Osten der Hauptstadt der Bezirk Tower Hamlets (wöchentliche Infektionsrate: 1041) seine Schüler aussperren, das angrenzende Hackney (810) aber den Unterricht wie gewohnt organisieren sollte, blieben undurchsichtig.

Empört fragten die Labour-Chefs stark betroffener Verwaltungseinheiten wie Haringey (915) und Greenwich (819), warum Tory-Bezirke mit viel weniger Infizierten wie Kensington (535) und Westminster (520) die Schultore schließen, sie selbst aber den Betrieb aufrechterhalten sollten. Am Neujahrstag gab Williamson nach: Am Montag bleiben sämtliche Lehranstalten geschlossen.

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