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Protest vor dem Old Bailey. Unterstützer von Julian Assange wenden sich gegen die Auslieferung des Wikileaks-Gründers an die USA.

© Henry Nicholls / REUTERS

„Gangsterhafte Verschwörung“ gegen Wikileaks: Der Aufklärer Assange als Unperson

Julian Assange droht eine absurd hohe Freiheitsstrafe. Beim Prozess gegen ihn geht es um nicht weniger als die politischen Werte des Westens. Ein Gastbeitrag.

Günter Wallraff lebt als Investigativjournalist und Autor in Köln. Sigmar Gabriel, früher Außenminister und SPD-Vorsitzender, ist heute Vorsitzender der „Atlantikbrücke“, Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bank und Autor der Holtzbrinck-Gruppe, zu der auch der Tagesspiegel gehört. 

Hinter Panzerglas von seinen Verteidigern isoliert und vorgeführt wie ein Schwerverbrecher oder Terrorist, muss Julian Assange in diesen Tagen in London um seine Freiheit kämpfen. Im Zentralen Strafgerichtshof Old Bailey wird seit Montag die Anhörung zum US-Antrag auf Auslieferung fortgesetzt. Die US-Justiz wirft dem Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks unter anderem vor, vor zehn Jahren der Whistleblowerin Chelsea Manning dabei geholfen zu haben, „Staatsgeheimnisse“ zu veröffentlichen.

Was nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken sollte, waren allerdings in Wahrheit Kriegsverbrechen von US-Militärs im Irak und in Afghanistan, die ohne Assange und Wilileaks vermutlich auf ewig im Verborgenen geblieben wären. Im Fall einer Auslieferung an die Vereinigten Staaten und bei einer Verurteilung in Virginia in allen 18 Anklagepunkten drohen Julian Assange bis zu 175 Jahre Haft.

Mit dem Ruf einer schwierigen Persönlichkeit

Julian Assange galt in der Vergangenheit häufig als schwierige Persönlichkeit, der es auch eigenen Mitarbeitern nicht immer leicht machte, ihn zu unterstützen. Dies ausnutzend, wurde versucht, ihn von einem weltweit geachteten Aufklärer zur Unperson, zum Unhold zu ächten, um ihn auf diese Weise mundtot zu machen.

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Der UN-Sonderberichterstatter zum Thema Folter, Nils Melzer, spricht von einer „gangsterhaften Verschwörung“ gegen Assange und stellte nach eingehendem Aktenstudium fest, dass staatliche Stellen hier einen Vergewaltigungsverdacht gegen Assange konstruierten, um den Auslieferungsvorwand für Assange begründen zu können.

Melzer, Schweizer Staatsbürger mit einem Lehrstuhl für humanitäres Völkerrecht an der britischen Universität von Glasgow und eher ein Mann der leisen Töne, bezeichnete die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Assange als „Startschuss für ein Jahrzehnt schwerster staatlicher Willkür und Verfolgung"“.

Nach siebenjährigem Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London, von einem US-gesteuerten privaten Sicherdienst selbst auf der Toilette bespitzelt, ist Assange seit anderthalb Jahren in Englands Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh inhaftiert. Die meiste Zeit davon in Isolationshaft, einzig zu dem Zweck, eine Auslieferung an die USA sicherzustellen. Als UN-Sonderberichterstatter für Folter erhielt Melzer im Mai 2019 die Möglichkeit, Assange zusammen mit zwei Ärzten zu besuchen.

Sein Fazit: Der Inhaftierte weise alle Anzeichen von Folter auf, verursacht vermutlich während seines Aufenthalts in der ecuadorianischen Botschaft. Assange sei weder körperlich in der Lage, seine Verteidigung angemessen vorzubereiten, noch hätten seine Anwälte hinreichend Gelegenheit dazu, dies mit ihm gemeinsam zu tun. Aus diesem Grund, so der UN-Sonderberichterstatter, müsse er dringend aus der Haft entlassen werden. Julian Assange gehöre, so Melzer, wegen seines kritischen Gesundheitszustandes längst in ein Krankenhaus.

Verteidigung ohne Ansehen der Person

Was immer man Assange vorwerfen mag und wie auch immer man zu ihm steht, so gilt doch: der demokratische Rechtsstaat unterscheidet sich im Kern von autoritären und diktatorischen Regimen dadurch, dass er ohne Ansehen der Person jedem Beschuldigten oder Angeklagten eine angemessene Verteidigung ermöglicht, um auf diese Weise ein faires Verfahren zu sichern und darauf aufbauend ein mit dem Gesetz in Einklang stehendes Urteil zu fällen.

Melzers Berichte sind beeindruckende Dokumente dafür, dass exakt dies im Fall von Julian Assange nicht der Fall ist. Der Umgang mit ihm und letztlich auch mit der politischen und ökonomischen Macht des Staates, der seiner habhaft werden will, ist deshalb ein Lackmustest für den demokratischen Rechtsstaat.

Die Veröffentlichung geheimer Dokumente der US-Regierung durch Wikileaks, das Aufdecken von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen oder die Militärberichte in der Sammlung „Afghan War Diary“ war das Ergebnis einer engen Kooperation der Enthüllungsplattform mit führenden Medien weltweit, darunter die „New York Times“, der britische „Guardian“, „Le Monde“ in Frankreich, „El País“ in Spanien und „Der Spiegel“ in Deutschland.

Das „Collateral Murder Video“ etwa zeigt, wie Soldaten in Bagdad aus einem Hubschrauber wie in einem Videospiel mehr als ein Dutzend Menschen massakrieren, unter ihnen zwei Journalisten von Reuters. Ein Kleinbus, der stoppt, um Verletzte zu retten, wird ebenfalls angegriffen, der Retter gezielt erschossen. Seine beiden Kinder überleben schwerverletzt.

Doch bis heute wurde keiner derjenigen, die die Kriegsverbrechen im Irak begangen oder befohlen haben, zur Rechenschaft gezogen. Assange aber, Aufdecker von Kriegsverbrechen, staatlicher Folter und Korruption, droht eine absurd hohe Freiheitsstrafe. Sollte die britische Justiz dem Auslieferungsbegehren aus Washington nachgeben und die britische Regierung am Ende tatsächlich die Überstellung in die USA politisch durchsetzen, wäre das ein Dammbruch.

Die Verfolgung von Julian Assange ist ein grundsätzlicher Angriff auf die Pressefreiheit und die Anklagen sind letztlich eine Kriegserklärung gegen den investigativen Journalismus. Freie journalistische Arbeit zur Aufdeckung staatlicher Verbrechen wäre fortan nur noch unter permanenter Bedrohung möglich, wenn Journalisten und Whistleblower befürchten, dies mit Einkerkerung oder sogar ihrem Leben bezahlen zu müssen.

Journalisten bohren nach

Wohlweislich hatte die Vorgängerregierung unter Präsident Barack Obama von einer strafrechtlichen Verfolgung Assanges abgesehen. Die Arbeit von Wikileaks lässt sich nicht unterscheiden von der anderer Medien. Die Zusammenarbeit von Journalisten mit Informanten ist eine Selbstverständlichkeit. Es ist absurd anzunehmen, Journalisten würden darauf warten, bis ihnen brisantes Material zugespielt wird. Sie suchen nach Lecks, sie bohren nach.

Es liegt in der Natur der Sache, auch an geheime Verschlusssachen zu gelangen, wenn gravierende Missstände und – wie im vorliegenden Fall – Kriegsverbrechen vorliegen, die durch die Filmausschnitte von Wikileaks dokumentiert und belegt wurden. Selbstverständlich müssen sich Informanten darauf verlassen können, dass sie selbst geschützt bleiben. Das ist keine kriminelle Verschwörung, sondern Kern der journalistischen Arbeit.

Julian Assange wurde mit internationalen Journalistenpreisen ausgezeichnet. Zusammen mit den US-Whistleblowern Chelsea Manning und Edward Snowden ist er für den diesjährigen Friedensnobelpreis nominiert. Die Bundesregierung sollte sich auch im Fall von Assange zu ihrer wertegeleiteten Außenpolitik bekennen, wie gerade jetzt nach dem Mordversuch am russischen Regierungskritiker Alexander Nawalny.

Wenn es um Rechtsstaatlichkeit geht, darf es in unseren Demokratien keine doppelten Standards geben. Es geht hier nicht allein um Assange, sondern um die Glaubwürdigkeit dessen, was wir häufig „die westlichen Werte“ nennen. Es geht um die Verteidigung der Meinungs- und Pressefreiheit. Wir müssen sie gemeinsam und entschieden verteidigen, sonst verliert die offene Gesellschaft, verlieren wir – und statt der Kriegsverbrecher wird Julian Assange den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen.

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