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Mitten in der Menge - und doch nur sich selbst im Blick: Eine junge Frau macht auf der Fanmeile ein Jubel-Selfie von sich.

© Kay Nietfeld, dpa

Fußball-Weltmeisterschaft: Die Begeisterung der Fans: Ich und die Masse

Fast überall liefen Fernseher, wurde mitgefiebert: Selten war mehr Gemeinschaft als bei der jüngsten Fußball-WM. Für eine Gesellschaft, die sonst auf Individualismus setzt, ein neues Ritual.

Die einen sagen Public Viewing oder Fanmeile, wenn sie Massen sehen, die ähnlich gekleidet vor Leinwänden sitzen oder jubelnd und klatschend eine Straße in Berlin vollstellen, die anderen erkennen in denselben Veranstaltungen etwas viel Komplexeres, nämlich eine „posttraditionelle Vergemeinschaftung durch kollektive Affektivität“. Das sind dann die Wissenschaftler.

Einer von ihnen, Christian von Scheve, Juniorprofessor und Soziologe an der Freien Universität Berlin, hat die übergreifenden Auswirkungen der kollektiven Affektivität auch an sich selbst erspürt. Wenn er beim Fußballweltmeisterschaftschauen mit Freunden in Wallungen geriet, die diese Sportart sonst nicht hervorruft. „Ich war schnell begeistert“, sagt von Scheve, und das gerne.

Er war in das Getriebe eines neuen Rituals geraten. So kann er das über sich selbst sagen. Denn als Ritual bezeichnen Soziologen und Anthropologen, was sich in den vergangenen Wochen in Deutschland zeigte: die öffentlich zelebrierte massenhafte Fußballeuphorie.

Was Fanmeile und Papstwahl verbindet

Rituale dienen seit Jahrtausenden dem Gruppenzusammenhalt, und sie sind, da sie Verlässlichkeit schaffen, umso wichtiger, je unsicherer die Zeiten sind – das gilt inzwischen als Gemeinplatz. Sie können klein und alltäglich sein wie das Händeschütteln zur Begrüßung oder umfänglich und komplex wie die weltweit beachteten Feierlichkeiten zur Amtseinführung eines neuen Papstes. Deren „Dynamik und Faszination“ hätten sich selbst jene „Menschen nicht entziehen können, die der Kirche ansonsten distanziert gegenüberstehen“, heißt es in einer Erklärung der Freien Universität zum Ende eines Sonderforschungsbereichs, der von 1999 bis 2011 Rituale untersucht hat. Kollektive Affektivität also auch hier. In diesem Punkt gilt für die Papstwahl dasselbe wie für Fußball.

Vielleicht umso mehr, als andere religiöse Feste in der westlich-säkularisierten Welt kaum noch Zusammengehörigkeitsgefühle und soziale Ordnung schaffen. Scheve: „Ostern und Weihnachten haben an Bedeutung eingebüßt.“ Weihnachten ist mehr Familien- als Kirchenfest. Ostern ist eher jahreszeitlich konnotiert oder gänzlich botschaftslos zum verlängerten Wochenende geworden. Aber ohne Gemeinsinn geht es nicht, wie der Urvater der Ritualforschung Emile Durkheim 1912 wusste: „Es gibt keine Gesellschaft, die nicht das Bedürfnis fühlte, die Kollektivgefühle und die Kollektivideen in regelmäßigen Abständen zum Leben zu erwecken und zu festigen.“

Die Siegerfeier als Versuchsanordnung - die in Teilen durchfiel

Nach zwei Weltmeisterschaften 2006 (Sommermärchen) und 2010 (Südafrika) und zwei Europameisterschaften (2008 und 2012) haben sich also Fanmeile und vorangehende Public-Viewing-Veranstaltungen als massenwirksames Ritual etabliert, das seinen zentralen Platz am Brandenburger Tor in der Mitte Berlins hat. Bisher wurden dort ein zweiter Platz (2008) und zwei Mal das Erreichen des Halbfinales gefeiert, bei der vierten Auflage ging es erstmals um den Sieg. Wie das angemessen zu inszenieren sei, war eine Versuchsanordnung, die in Teilen –

So gehen die Gauchos! Und das geht natürlich gar nicht? Am Siegestanz entzündete sich Kritik, zu auftrumpfend.
So gehen die Gauchos! Und das geht natürlich gar nicht? Am Siegestanz entzündete sich Kritik, zu auftrumpfend.

© AFP

Gaucho-Tanz – durchfiel. Solche Unsicherheiten im Detail waren schon zuvor zu sehen, wenn nach Torschüssen Menschen gefilmt wurden, deren Freudenausbruch mit einem leichten Zögern behaftet war: Soll ich jetzt anderen um den Hals fallen, oder schreie ich besser allein herum?

Nur kleine Zweifel und wettgemacht durch den Zweck des Ganzen: Die Fußballeuphorie war eine Verabredung zur gemeinsamen Freude, sie verhalf der großen Gruppe vor allem junger Menschen aus der digitalen Generation zu einer Selbstvergewisserung: Sind noch alle da? Es sei viel Selbstzweck dabei, sagt von Scheve. Gelegenheits-Fansein als „egoistische Angelegenheit“. Erstmals sagten Besucher diesmal aber auch, „die Luft ist raus“. Und blieben trotzdem. Fanmeile, Public Viewing – das macht man halt. Das Ritual als solches ist stark genug, um gegen Müdigkeitserscheinungen zu bestehen. Dazu passt der Eindruck, es werde schwieriger, sich zu entziehen. Weil die Masse das Ziel ist, bedroht, wer sich ihr verweigert, das Ritual an sich.

Seit wann es Rituale gibt, ist nicht eindeutig feststellbar. Vermutlich seit es Menschen gibt. Rituale machen Hierarchien deutlich und geben Gruppen Strukturen. Archäologen fanden in Afrika Spuren, aus denen sie folgerten, dass es schon in der Steinzeit Rituale gegeben habe.

Das Händeschütteln ist ein Ritual, das sich im 10. Jahrhundert etablierte

Das kann nur gemutmaßt werden, wie es auch über die Entstehung von mittelalterlichen Ritualen keine Informationen gibt. Dass es sie gab, und dass sie in den vorstaatlichen Gesellschaften eine wichtige Funktion hatten, ist erforscht. Der Historiker Gerd Althoff schreibt in seinem Buch „Die Macht der Rituale“, dass vermittels ritueller Handlungen „Verpflichtungen übernommen, Beziehungen dargestellt, Rechte anerkannt“ wurden: „Machtausübung vollzog sich offensichtlich ganz wesentlich in solchen Handlungen“, besonders wenn sie öffentlich waren. Dann wurde vor den Augen der Interessierten festgelegt, „welche Möglichkeiten der Macht eingeräumt und welche Grenzen ihr gesetzt wurden“. Auch das Händeschütteln rührt daher, es soll im 10. Jahrhundert üblich geworden sein, und bis zum 12. Jahrhundert beherrschten rituelle Sprechakte weitgehend die öffentliche Kommunikation. Rituale schufen damals „nicht nur Verfahrenssicherheit für die Gegenwart, sondern begründeten auch die Erwartung kalkulierbaren Verhaltens in der Zukunft.“ Interessanterweise gilt als Blütezeit ritueller Inszenierungen der höfische Absolutismus, dessen Kernmerkmal die Abhängigkeit jedes Einzelnen vom Wohlwollen eines willkürlich handelnden Herrschers war.

Das Fußballfest als Sinngeber? Ja!

100 Jahre später stellte Anfang des 20. Jahrhunderts der Psychiater Sigmund Freud das Schädliche von Ritualen fest, wenn sie den Alltag bestimmen und „jede Abweichung vom Zeremoniell“ eine Strafe in Form von „unerträglicher Angst“ nach sich zieht. Moderne Lebensbewältigungsratgeber dagegen raten dazu, den Alltag mit kleinen Ritualen in beherrschbare Abschnitte zu zerteilen. Rituale als Krücke.

Rituale markieren häufig Übergänge: Hochzeit, Geburt oder Tod.
Rituale markieren häufig Übergänge: Hochzeit, Geburt oder Tod.

© dpa

Dass an Rituale sehr lange Zeit wenig wertschätzend gedacht wurde, lag auch daran, dass die Begrifflichkeit von Ritualhandlungen besonders mit dem Erforschen indigener Völker in entlegenen Weltregionen aufkam. Urtümliche, fremdartige Rituale zur Bewältigung des Lebens waren die Reaktion von Primitiven, von Anti-Intellektuellen. Gemeinsam war exotischen Riten von Urwaldvölkern und aufwändigen Zeremonien modernerer Gesellschaften, dass sie oft einen Übergang begleiteten: Geburt, Hochzeit, Tod. Es gibt für diese und andere Rituale ein paar formale Kriterien. Sie müssen wiederholbar und wiedererkennbar sein, sich auf Handlungen oder Ereignisse beziehen und die überhöhen, sie sind öffentlich und stellen Anforderungen an Teilnehmer – im Fanmeilenfall etwa Anmalen oder Trikottragen.

Die Individualisierung führt zu "Leerräumen" - die Public Viewing und Fanmeile füllen

Ob nun das Fußballritual andere Rituale ergänzt oder deren Bedeutungsverlust kompensiert, wird von Wissenschaftlern eher gemutmaßt, als dass es erwiesen ist. Der Berliner Professor für Anthropologie Christoph Wulf gesteht ihm jedenfalls einen „stellvertretenden Sinn“ zu. „Weil die großen Ideen und Erzählungen nicht mehr en vogue sind“, sagt er und meint beispielsweise die Friedensbewegung der 1970er Jahre oder die hochpolitisierte Studentenbewegung. Parallel zu diesen Bewegungen schritt die Individualisierung der Gesellschaft voran, die Selbstbestimmung forderte und Traditionen wegfegte. Das ist zwar praktisch für den Einzelnen, der sich nicht mehr gebunden fühlen muss, doch geht damit Beziehungslosigkeit einher. Dazu kommen weitere Unverbindlichkeiten: Zeitverträge statt Firmenzugehörigkeit, Vereine und Parteien klagen über Mitgliederschwund, Vernetzung findet im Internet statt. Als Kehrseite all dessen seien „Leerräume“ entstanden, sagt Wulf.

Fußball also als Antwort auf die Sinnfragen von halb-vereinsamten Egomanen? Ist das nicht recht traurig?

Ach, bewerten will Wulf das nicht, jedenfalls nicht negativ. Eher so herum: Ein universelles Weltereignis, das das Fußballturnier fraglos war, übertragen in mehr als 200 Länder, weltweit Milliarden Zuschauer, füllt die Lücke, die von der Modernisierung und der Globalisierung in lokale Ritualkulturen gerissen wurde.

Der Kölner Pädagogikprofessor Jörg Zirfas glaubt dagegen nicht an eine „schwankende Ritualdichte“. Rituale würden sich nur ändern. Bisher habe es Massenaufläufe vor allem als Machtdemonstration gegeben, die eine Form von Stärke und Gewalt ankündigten, besonders im Nationalsozialismus, in dessen Regie die kollektive Affektivität zur Raserei geriet.

In der Folge wurden Rituale „fast ausschließlich unter den Aspekten der Stereotypie, Rigidität und Gewalt thematisiert“, schreiben Zirfas und Wulf in „Ritualdynamik“, einem Sammelband zum Thema. Das gelte auch für ihn persönlich, sagt Wulf, Jahrgang 1944. Wie seine ganze Generation habe er gedacht: Rituale unterdrücken Menschen und seien darum abzulehnen. Das sei aber falsch. Kritisch solle man sein – aber nicht grundsätzlich dagegen. Und der Umgang mit Ritualen habe sich ja auch geändert. Heute würden sie als „lebensweltliche Scharniere“ betrachtet.

"Vor einer Leinwand stehen und ,Wahnsinn!’ sagen, kann jeder."

So tobt die Fanmeile – von allen negativen Assoziationen befreit – vor sich hin, weil sich dort im Unterschied zu vorangegangenen Demonstrationen „Jubelmassen“ (Zirfas) treffen, denen es um nichts weiter als den Massenjubel gehe. Für die Bedeutung solcher inhaltslosen Zusammenkünfte gelte: „Je öffentlicher es wird, desto geringer wird der symbolische Gehalt, damit alle anschlussfähig sind.“ Oder konkreter: „Vor einer Leinwand stehen und ,Wahnsinn!’ sagen, kann jeder.“

Wenn dieses neue Ritual nun vor allem Selbstzweck ist, unterscheidet es sich in einem zentralen Punkt vor seinen Vorgängern, die im Umfeld von Macht vorkamen. Seien sie kirchlicher oder politischer Natur. Aber für „vollkommen unschuldig“ möchten die Wissenschaftler die Fanmeile auch nicht halten. Schließlich gebe es da noch die ökonomische Seite, das Weltmeisterschaftsfantum sei „durchwachsen von Grundzügen des Kapitalismus“, sagt Wulf. Der Weltfußballverband Fifa und die Sponsoren haben erheblichen Einfluss auf das Ritual. Und auch der Fußball selbst integriere das ökonomische Prinzip: „Man verdient, wenn man gewinnt“, sagt Wulf.

Dieser Gedanke verschwindet aber während des Rituals im Hintergrund, denn er ist zur Gemeinsamkeitsstiftung nicht geeignet. Das Ökonomische zerstört den Glauben an das, was geschieht. Und auch darum geht es: ums Daranglauben. Rituale können nicht bestehen, wenn ihr Nutzen infrage steht. Dann würden die auf der Fanmeile versammelten prekär beschäftigten Nachwuchsakademiker merken, dass sie gerade irrsinnigerweise einem Haufen Millionären zujubeln, die lediglich Ballspielen können – und müssten ihren Beifall sofort einstellen. Stattdessen verweilen sie. „Der Mensch ist nicht eindeutig“, sagt dazu der Anthropologe Wulf.

So viel Schwarzrotgold ist selten, doch es geht bei der Fanmeile nur am Rande um die Nation an sich.
So viel Schwarzrotgold ist selten, doch es geht bei der Fanmeile nur am Rande um die Nation an sich.

© dpa

Nicht ganz klar ist auch, was Deutschland für eine Rolle spielt beim Jubel am Flatscreen oder Brandenburger Tor. Geht es auch um die Nation? Eher nicht, sagen die Wissenschaftler. Gleichwohl werde von den harmlos und darum weltweit akzeptiert Feiernden gern in Kauf genommen, dass als Nebeneffekt ihres Festes dem Auftauchen deutscher Nationalsymbole allmählich der Schrecken abgeht.

Die schwarzrotgoldene Masse auf der Fanmeile ist wie jede andere Masse auch ein Ort, an dem man Verantwortung abgibt. „Kompensationsphänomen“, sagt Zirfas. In der heutigen Gesellschaft sei der Einzelne permanent gefordert, Schlagwort „Biografisierung“: Es werde so getan, als sei jeder der Herr seines eigenen Lebens, obwohl alle wüssten, dass das so nicht sei. Diesem Selbstverantwortungsdruck entfleucht der Neuzeitmensch kurzzeitig und freiwillig, indem er mitten in Berlin bunt bemalt Oléolé schreit und einen Wimpel schwenkt.

Der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest hat 2011 eine Studie veröffentlicht, die nach Ritualen in Familien fragte. Mit 72 Prozent am häufigsten genannt wurde das gemeinsame Essen, was abnimmt, je älter die Kinder werden. Das kommt auch für Zirfas hin. Die drei beliebtesten Rituale in Deutschland seien gemeinsame Mahlzeiten, Weihnachten und Geburtstage. Als Letztes auf dem Treppchen also das Individuell-Besondere, in der Mitte das Weltbedeutungsfest und ganz oben das Familiär-Alltägliche.

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