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Vor fünf Jahren warteten syrische Flüchtlinge an der türkischen Küste auf die Chance einer Überfahrt.

© Ozan Kose/AFP

Fünf Jahre Flüchtlingsabkommen: "Inzwischen kommt keiner mehr"

Der türkische Küstenort Bademli war für Flüchtlinge das Tor nach Europa. Am 18. März 2016 schlossen die EU und Ankara einen Vertrag, der den Zustrom beendete.

Auf dem Dorfplatz von Bademli herrscht Vorfrühling, von der nahen Ägäis weht ein lauer Wind durch Olivenhaine und Zitronenbäume. Alte Männer sitzen vor dem Teehaus in der warmen Nachmittagssonne. Das Dorf an der türkischen Westküste gegenüber der griechischen Insel Lesbos wirkt idyllisch.

Vor fünf Jahren sah es hier jedoch ganz anders aus. „Massenweise kamen sie“, erinnert sich ein Einheimischer. „In Autos, Bussen und Taxis kamen sie, aus Istanbul und aus Izmir.“ Bei Bademli ist die Ägäis-Küste zerklüftet von vielen kleinen Felsenbuchten. Das ganze Jahr 2015 über bis zum Frühjahr 2016 stiegen Zehntausende Flüchtlinge aus Syrien und vielen anderen Ländern hier in Schlauchboote, um die 15 Kilometer nach Lesbos überzusetzen.

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Bademli war damals ein Umschlagplatz für die Schleuserbanden, die Flüchtlinge nach Europa schafften. Rund 860000 Flüchtlinge registrierten die UN im Jahr 2015 allein auf dieser Route. Die allermeisten reisten weiter nach Westeuropa, wo ihre Ankunft zum beherrschenden Thema wurde, wo Regierungen unter Druck gerieten und rechtspopulistische Parteien erstarkten. Der Strom der Massen endete erst mit dem Flüchtlingsabkommen, das die Türkei und die EU am 18. März 2016 abschlossen.

Torwächter europäischer Flüchtlingspolitik

Der Vertrag machte die Türkei zum Torwächter der europäischen Flüchtlingspolitik. Das Land erhielt sechs Milliarden Euro aus Brüssel dafür, dass es die Flüchtlinge im Lande behielt und versorgte. Zudem verpflichtete sich die Türkei zur Rücknahme von Flüchtlingen aus Griechenland, während die EU zusagte, Syrer auf legalem Weg aus der Türkei aufzunehmen. Der Deal wurde von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert: Das Menschenrecht auf Asyl werde zur Disposition gestellt, hieß es. Doch das Abkommen erfüllte den Zweck, den die EU anstrebte: Im Jahr 2016 zählten die UN noch knapp 175000 Neuankömmlinge auf den griechischen Ägäis-Inseln, 2020 waren es weniger als 10000.

Auch die Leute in Bademli haben erlebt, wie schnell und radikal sich die Lage um ihr Dorf veränderte. „Ich kann mich noch daran erinnern, wie die Leichen von sechs oder sieben ertrunkenen Kindern aus dem Wasser gezogen wurden“, sagt der Ladenbesitzer Özer. „Das war ganz schlimm damals. Inzwischen kommt aber keiner mehr, jedenfalls sehe ich keine Flüchtlinge mehr. Und ich finde es gut, dass sie nicht mehr kommen. Das ist so schlimm für die Leute, die wollen doch nur ein besseres Leben.“

Ein Angler am Meer außerhalb von Bademli beobachtet jeden Tag die Boote der türkischen Küstenwache, die zwischen der Türkei und Lesbos Patrouille fahren. Auf dem Land halte die Gendarmerie die Augen auf, sagt der Mann, ein ehemaliger Polizist. Mit starken Radargeräten werde nachts die ganze Gegend überwacht. Dass Gendarmen und Küstenwache auf einen Trupp Flüchtlinge treffen, ist selten geworden. Zuletzt entdeckten sie Ende Februar ein Boot mit 35 Menschen aus Afghanistan, Sudan und Somalia, das Kurs auf Lesbos genommen hatte.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält den Beitrag der EU für unzureichend.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält den Beitrag der EU für unzureichend.

© Adem Altan/AFP

In der Politik funktioniert der Vertrag nicht ganz so geräuschlos. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan beschwert sich oft und gerne darüber, dass die Europäer ihren Teil der Abmachung angeblich nicht einhalten und sein Land mit 3,6 Millionen syrischen Flüchtlingen und vielen weiteren aus Afghanistan und anderen Ländern allein lassen. Vor einem Jahr öffnete Erdogan vorübergehend die Landgrenze zu Griechenland für die Flüchtlinge, um die EU dazu zu zwingen, seine Syrien-Politik zu unterstützten. Der Versuch scheiterte, die meisten Flüchtlinge wurden von griechischen Grenztruppen abgefangen und oft mit brutalen Methoden in die Türkei zurückgeschickt.

Die EU hat die 2016 zugesagten sechs Milliarden Euro an die Türkei inzwischen komplett auf den Weg gebracht. Europa finanziert Schulen, medizinische Einrichtungen und Berufsbildungsprogramme für Syrer in der Türkei. Auch vergibt die EU mit den Hilfsgeldern Kleinkredite an türkische Bauern, die Syrer als Erntehelfer einstellen. Jetzt geht es hinter den Kulissen darum, eine Anschlussregelung für den Vertrag auszuhandeln.

Spannungen mit dem Nachbarn Griechenland

Türkische Politiker ignorieren in ihren Reden gerne, was die EU leistet – umgekehrt kommen in der EU immer neue türkische Geldforderungen nicht gut an. Dabei ist vielen Europäern nicht klar, was die Türkei in der Flüchtlingsfrage für Europa tut. Das Land, dessen Pro-Kopfeinkommen bei weniger als einem Drittel des EU-Durchschnitts liegt, lebt seit Jahren mit 3,6 Millionen registrierten Syrern und zusätzlich ein bis zwei Millionen nicht registrierten Flüchtlingen. In der wohlhabenden EU wurde schon wegen einer Million Neuzugänge der politische Ausnahmezustand ausgerufen.

Auch Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland erschweren die Gespräche über einen neuen Flüchtlingsdeal. Die türkische Regierung, Medien und Flüchtlinge werfen den Griechen vor, Bootsflüchtlinge widerrechtlich in türkische Gewässer zurückzustoßen und sie dort ihrem Schicksal zu überlassen. Vor wenigen Wochen entdeckte die türkische Küstenwache nach eigenen Angaben auf dem Meer bei Bademli ein Boot mit 20 Menschen. Das Boot sei von den Griechen in türkische Gewässer gebracht worden, erklärte die Behörde.

Die Dorfbewohner von Bademli bestätigen das. „Die Griechen setzen die Leute in Boote und schieben sie zu uns“, sagt einer der Alten vor dem Teehaus. „Dann stechen sie die Schlauchboote kaputt und überlassen sie dem Meer. Die gehen schlimm mit den Leuten um.“

Beginn neuer Verhandlungen unbestimmt

Ein Flüchtling, der seinen Namen nicht genannt wissen will, berichtet, wie er nach einem Fluchtversuch auf die griechische Insel Kos gegen seinen Willen in die Türkei gebracht wurde. Nachdem er zusammen mit anderen Flüchtlingen von den griechischen Sicherheitskräften auf Kos gefasst worden sei, hätten die Griechen kurzen Prozess gemacht: „Sie steckten uns in ein kleines Boot und schickten uns zurück in die Türkei“, sagt der Flüchtling. „Wenn uns die türkische Küstenwache nicht gefunden hätte, wären wir jetzt tot.“ Griechenland weist die Vorwürfe zurück, doch die Glaubwürdigkeit der europäischen Flüchtlingspolitik hat wegen der vielen Berichte über die illegalen „push backs“ stark gelitten.

Wann die Türkei und die EU mit formellen Verhandlungen über einen neuen Flüchtlingsdeal beginnen werden, ist offen. Am wahrscheinlichsten ist, dass die bisherigen Vereinbarungen fortgeschrieben werden, bis sich beide Seiten auf neue Inhalte einigen können. Die Leute in Bademli sind jedenfalls dafür, die Flüchtlingsvereinbarung in Kraft zu lassen, auch wenn damit nicht alle Probleme gelöst würden, wie Teehausbesitzer Mutlu sagt: „Das Abkommen ist gut, aber wenn Sie mich fragen: Wer gehen will, der geht auch. Wenn ich jetzt nach Deutschland will, dann können Sie mich auch nicht mit so einem Abkommen aufhalten.“

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