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Friedrich Merz, Rechtsanwalt, Lobbyist und Politiker der CDU.

© Mike Wolff

Friedrich Merz im Interview: „Dieses Land braucht Führung“

Der CDU-Politiker Friedrich Merz über Wahlen im Osten, die fragile Koalition – und ob er in das Kabinett einer Unions-Minderheitsregierung eintreten wird.

Die wichtigsten Thesen des Interviews im Überblick:

  • Merz kritisiert die Pläne zum Mietendeckel in Berlin. "Das hatten wir doch alles schon einmal in einem Teil unseres Landes“, meinte Merz mit Blick auf die DDR.
  • Fremdenfeindlichkeit sei kein ostdeutsches Phänomen. Aber: "DDR-Bürger kannten nur kasernierte Sowjetsoldaten und ein paar tausend Vietnamesen und Mosambikaner."
  • Mit Blick auf die drohende Rezession forderte Merz, dass die Bundesregierung, auf keinen Fall in einen Abschwung hinein noch die Steuern erhöhen dürfe. „Das wäre psychologisch ein wichtiges Signal, auch an alle diejenigen, die immer noch investieren wollen und Arbeitsplätze schaffen könnten.“

Lesen Sie hier das ganze Interview:

Herr Merz, Sie sind vor kurzem in die Wahlkämpfe in Ostdeutschland eingestiegen - was beschäftigt die Wähler dort?
Es sind oft ganz grundsätzliche Themen: Europa, innere und äußere Sicherheit, Energieversorgung und Kohleausstieg. Die Menschen haben teilweise das Gefühl, zum zweiten oder sogar zum dritten Mal vor einem Strukturbruch zu stehen, den sie nicht wirklich bewältigen können. Dazu kommt eine Vertrauenskrise in die Institutionen unseres Staates. Beachtliche Teile der Bevölkerung trauen der Politik, den Parlamenten und den Regierungen die Lösung der Probleme einfach nicht mehr zu. Das erklärt wahrscheinlich gerade im Osten Stimmung zugunsten von Linkspartei und AfD.

Ist das Protest oder Verzweiflung?
Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.

Sie haben im Rennen um den Parteivorsitz gesagt, sie trauten sich zu, die AfD zu halbieren. Welche Politik müsste die CDU betreiben, damit ihr das gelingt?
Den ersten Schritt hat sie getan, indem sie aufgearbeitet hat, was in der Flüchtlingskrise 2015 richtig und was falsch war. Das hat einen gehörigen Teil des Drucks genommen. Aber andere Fragen bleiben: Welches Gesellschaftsbild haben wir? Wie bewältigen wir die nach wie vor große Aufgabe der Integration der Einwanderer? Wie stellen wir uns die Zukunft unseres Landes im Spannungsfeld zwischen Ökologie und Ökonomie vor?

Gibt es bei diesen Fragen eigentlich irgendwo einen gemeinsamen Kitt mit der AfD?
Ich sehe weder irgendwelche Gemeinsamkeiten im Gesellschaftsbild, noch im Menschenbild, und auch und vor allem nicht in der Wortwahl dieser Partei. Das meiste, was ich von der AfD höre, stößt mich geradezu ab. Aber es gibt Themen, die die Union vernachlässigt hat, und die jetzt immer mehr von der AfD übernommen werden. Die Wertkonservativen in der Union wurden zu wenig gehört. Das fällt im Osten besonders auf. Dort ist auch das Gefühl stärker verbreitet, durch Einwanderung an Sicherheit und Identität zu verlieren.

Weil die DDR keine Erfahrung mit Fremden hatte?
Das spielt eine Rolle. Ich lebe in der Nähe des Ruhrgebiets mit seiner fast 200 Jahre alten Geschichte der Einwanderungen. Die Menschen dort kennen das Thema und wissen damit umzugehen. DDR-Bürger kannten nur kasernierte Sowjetsoldaten und ein paar tausend Vietnamesen und Mosambikaner. Es wäre trotzdem falsch, Fremdenfeindlichkeit nur im Osten zu verorten, sie gibt es auch im Westen. Aber der Wunsch, Zuwanderung zu steuern und zu begrenzen, ist im Übrigen nicht per se fremdenfeindlich.

Identität, Nation, Heimat sind die Themen der AfD - wieso kann die CDU da nicht mithalten?
Wir sind wahrscheinlich ein bisschen zu nachlässig mit der Frage umgegangen, wo unsere Interessen als Deutsche liegen und welches Bild von unserem Staat und unserer Nation dahintersteht. Ein Beispiel: Bei dieser "unteilbar"-Demonstration in Dresden vorige Woche war die deutsche Nationalflagge nicht erlaubt. An so etwas darf sich die Union nicht beteiligen. Wir können doch die Symbole unseres Staates nicht dem politischen Rand überlassen.

Wenn Sie Köpfe für das Wertkonservative vermissen - wird deshalb jemand wie Hans-Georg Maaßen zum Ersatz?
Diejenigen, die sich zu Recht Sorgen machen um die innere Sicherheit suchen doch nach Antworten und nach Personen, die diese Antworten auch geben können. Ein Mann wie Wolfgang Bosbach hätte in der Union eine viel wichtigere Rolle spielen müssen.

Wird Maaßen zum Thilo Sarrazin der Union?
In der Union denkt niemand ernsthaft darüber nach, Hans-Georg Maaßen aus der Partei auszuschließen.

Aber es war die Parteivorsitzende selbst, die den Gedanken ventiliert hat!
Sie hat klargestellt, was wirklich gemeint war. Und damit ist das Thema erledigt.

Zurück zu den Wahlthemen: Was halten Sie von Annegret Kramp-Karrenbauers Vorschlag, in Problemregionen Sonderwirtschaftszonen einzurichten?
Es ist sicher nicht einfach, Sonderbedingungen zu schaffen, die wirken und zugleich mit dem EU-Recht vereinbar sind. Trotzdem finde ich richtig, dass wir auch immer wieder etwas Neues ausprobieren. Wir haben bisher zum Beispiel an keiner Stelle in Europa einen grenzüberschreitenden Tarifvertrag. Es gibt nirgendwo gleiche arbeitsrechtliche Bedingungen in den Grenzregionen. Wieso machen wir aus den strukturschwachen Grenzgebieten in Brandenburg und Polen nicht eine europäische Modellregion mit gleichen Bedingungen, um gemeinsam Arbeitsplätze zu schaffen?

Im Frühjahr noch Konkurrenten um den CDU-Vorsitz: Annegret Kramp-Karrenbauer und Friedrich Merz.
Im Frühjahr noch Konkurrenten um den CDU-Vorsitz: Annegret Kramp-Karrenbauer und Friedrich Merz.

© Ina Fassbender/dpa

Kann der Staat nicht auch helfen mit der Ansiedlung von Behörden oder Hochschulen?
Behörden allein schaffen ja noch keine zusätzlichen Arbeitsplätze in der Wirtschaft. Aber ich hätte mir zum Beispiel vorstellen können, dass die vom Bund geplante und geförderte Batteriefabrik in den Osten kommt und dort die vorhandenen Industriecluster stärkt.

Gut, aber eine Batteriefabrik ersetzt ja nicht grundlegende Mängel an Investitionen und Infrastruktur - etwa die Stilllegung von Bahnverbindungen.
Das scheint mir ein grundsätzliches Problem unserer Wirtschaftspolitik zu sein. Wir sind offenbar nicht mehr bereit und in der Lage, das Geld für die unbestreitbar notwendigen öffentlichen Investitionen aufzubringen. Warum schaffen wir es nicht, privates Kapital auch in öffentliche Infrastruktur zu lenken? Es ist privates Geld in großem Umfang vorhanden, in Unternehmen, in den Versicherungen, in den privaten Haushalten. Sie alle suchen nach Anlagemöglichkeiten und wären bereit, gegen kleine Zinsgewinne zu investieren. Stattdessen redet ein Teil der Regierung ständig über Steuererhöhungen.

Was wäre falsch daran, mehr Mittel für Bahn oder Straßenbau zu beschaffen?
Gar nichts wäre daran falsch. Die Frage ist nur, ob die Verkehrsinfrastruktur allein über die öffentlichen Haushalte finanziert werden kann. Wenn wir die Mobilität in Deutschland ökonomisch und ökologisch sinnvoll verbessern wollen, dann kann das meines Erachtens nicht der Staat alleine leisten. 

Aber liegt das nicht auch an einer Fixierung auf eine „schwarze Null“?
Wenn dieser Staat mit über 800 Milliarden Euro Steuereinnahmen im Jahr angeblich nicht mehr auskommt, dann ist der Maßstab verloren gegangen, was für unsere Zukunft notwendig ist. Ein Drittel unserer volkwirtschaftlichen Leistung wird von den Sozialkassen vereinnahmt,  52 Prozent des Bundeshaushalts gehen mittlerweile in die Sozialpolitik. Das ist alles schön und gut, aber angesichts der wirtschaftlichen Lage und angesichts der zu geringen Investitionen ist das jetzt nicht mehr steigerungsfähig.

Die Grundrente kommt erst noch ...
Sie ist im Koalitionsvertrag vereinbart, und zwar strikt an Bedürftigkeit orientiert. Dabei muss es auch bleiben. Wichtiger wäre eine bessere betriebliche und private Altersvorsorge, damit dieses Problem nicht noch größer wird. Rund zwei Drittel der Beschäftigten haben so etwas schon, aber ein Drittel eben nicht – und das sind oft diejenigen, die eine Zusatzrente am dringendsten brauchen könnten.

Was halten Sie davon, am anderen Ende einzugreifen, also etwa durch Mietendeckel wie in Berlin?
Na ja, das ist eben der immer weitere Weg in die Staatsbewirtschaftung des Wohnungsmarktes. Diejenigen, die das vorschlagen, schrecken ja noch nicht einmal davor zurück, in Zukunft die Bezirksämter statt die Gerichte über Eigenbedarfskündigungen entscheiden zu lassen. Die Verfügung über die private Wohnung wird also zum Gegenstand eines staatlichen Verwaltungsaktes. Das hatten wir doch alles schon einmal in einem Teil unseres Landes.

Aber schon als es um die Frage von Enteignungen ging, zeigten Umfragen große Zustimmung in der Bevölkerung!
Wenn es nicht so zynisch wäre, müsste man sich eigentlich wünschen, dass diese Vorschläge tatsächlich umgesetzt würden. Spätestens in einigen Jahren würde man das Ergebnis dann sehen, nämlich den totalen Zusammenbruch des Berliner Wohnungsmarkts. Leider hätten dann aber ausgerechnet die sozial Schwächsten am meisten darunter zu leiden. In Berlin wird schlicht zu wenig gebaut!

Es kann eine Rezession in Deutschland drohen – kann das ein Grund sein, die Verschuldungsgrenze zu reißen?
Nein, der neu gefasste Artikel 115 des Grundgesetzes lässt bei einem konjunkturellen Abschwung einen gewissen Spielraum zu. Wir sind noch nicht in einer Rezession, technisch vielleicht, aber ökonomisch eben noch nicht. Wichtig wäre, dass die große Koalition sich jetzt einmal dazu durchringen würde zu sagen, wir werden auf keinen Fall in einen Abschwung hinein noch die Steuern erhöhen. Das wäre psychologisch ein wichtiges Signal, auch an alle diejenigen, die immer noch investieren wollen und Arbeitsplätze schaffen könnten.

Im Aufschwung der letzten Jahre hat sich die Abgabenquote noch einmal um drei Prozentpunkte erhöht. Ein Prozentpunkt sind gut 30 Milliarden Euro mehr an Steuern – insgesamt also etwa 100 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen, aber eben auch höhere Belastung der Unternehmen und der privaten Haushalte. Auch wenn die SPD dazu nicht bereit ist, müsste wenigstens die Union klar sagen: Es wird keine höheren Steuerbelastungen geben.

Der zweite Schritt sollte darin bestehen, in der nächsten Wahlperiode endlich wieder über eine grundlegende Reform der Einkommens- und Körperschaftssteuer zu sprechen. Das Thema Steuerreform ist überfällig, und zwar dieses Mal als Unternehmenssteuerreform, die die Einkommensteuer allein auf die privaten Haushalte konzentriert, und die die richtigen ökonomischen u n d ökologischen Anreize gibt.

Eine Bierdeckel-Reform mit Öko-Stempel…
Wir brauchen eine Reform, die den Standort sichert – wir verlieren sonst im internationalen Wettbewerb. Andere Industrieländer, wie die USA, Großbritannien und Schweden, haben inzwischen breite Steuersenkungen beschlossen. Amerika ist zurzeit wahrscheinlich einer der interessantesten Investitionsstandorte auf der Welt, mit 21 Prozent Körperschaftssteuer. Und wir diskutieren hier immer noch über weitere Steuererhöhungen. Ja, ich werde immer noch in jeder zweiten Veranstaltung auf den Bierdeckel angesprochen. Aber warum? Weil die Menschen damit eine grundlegende Vereinfachung des Systems verbinden – auch wenn die Zeit über meinen Vorschlag von 2003 hinweggegangen ist. Die Bevölkerung will ein einfacheres System. Diesen Anspruch sollten wir nicht aufgeben.

Früher hatte die CDU für fast alle Felder profilierte Köpfe, auch in der Finanzpolitik, heute kann schon die Vorsitzende kaum bekannte Umweltpolitiker benennen – ist die thematische Breite verloren gegangen?
Eine Partei, die Volkspartei sein will, braucht ein breites Spektrum, inhaltlich wie personell. Und die Fähigkeit hat die Union in den letzten Jahren nicht mehr in ausreichendem Masse gezeigt. Das gilt für die Wirtschaftspolitik genauso wie für die Sozialpolitik.

Eine Partei, die Volkspartei sein will, brauche ein breites Spektrum, inhaltlich wie personell,. sagt Merz.
Eine Partei, die Volkspartei sein will, brauche ein breites Spektrum, inhaltlich wie personell,. sagt Merz.

© Mike Wolff

Es gibt eine Dominanz von Extrempositionen, Flügel wie die Werte-Union werden einflussreicher – was muss eine Parteivorsitzende tun, um diese Dinge wiederzubeleben?
Das ist eine schwierige Frage. Es ist natürlich nicht einfacher geworden, auch durch die sozialen Medien. Im Grund ist mit Wolfgang Schäuble der Minister der Union ausgeschieden, der die größte Autorität hatte. Er hat damit in der Partei und in der Regierung eine große Lücke hinterlassen.

Was muss sich ändern?
Die Union ist immer dann erfolgreich gewesen, wenn sie mit klugen Köpfen Themen besetzt hat, und die in der Öffentlichkeit in der Lage sind, eine Diskussion zu bestimmen. Wir müssen in den großen Themen, sicher nicht allen, aber den wichtigen, die Meinungsführerschaft in der Öffentlichkeit zurückgewinnen.

Was kann denn die CDU vom Kurs Michael Kretschmers in Sachsen lernen?
Michael Kretschmer hat einen  großartigen Wahlkampf gemacht. Er hat gezeigt, wie es geht: Diskussionsprozesse führen und aushalten, Präsenz zeigen, zuhören, auf die Menschen zugehen. Einfach wieder mehr Raum zu lassen für unterschiedliche Meinungen und Diskussionen. Aufnehmen, was aus der eigenen Partei und der Bevölkerung an Vorschlägen kommt.

Kretschmer, aber auch SPD-Ministerpräsidenten in Ostdeutschland wollen eine Aufhebung oder zumindest Lockerung der Russland-Sanktionen. Ist die Zeit reif dafür?
Ich habe großes Verständnis für die Position der ostdeutschen Ministerpräsidenten und Landesvorsitzenden. Aber ich teile sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht.  Wir müssen trotzdem alles dafür tun, um langfristig wieder ein besseres Verhältnis zu Russland zu bekommen. Vielleicht geht das erst nach Putin. Aber ohne Russland wird es auf Dauer keine politische Stabilität in Europa geben.

Ist Nord Stream 2 ein Fehler?
Es war falsch, diese Pipeline über die Köpfe anderer europäischer Länder hinweg zu beschließen. Die Pipeline war auch nie nur ein „wirtschaftliches Projekt“. Wir haben uns aber auch selbst in eine schwierige Lage gebracht. Wir sind erst aus der Kernenergie ausgestiegen, dann aus der Steinkohle, jetzt steigen wir aus der Braunkohle aus.

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Wenn wir jetzt auch noch die Gasversorgung gefährden, wird es irgendwann schwierig. Zum jetzigen Zeitpunkt muss man die Pipeline zu Ende bauen – aber richtig wohl fühle ich mich dabei nicht, etwa mit Blick auf die Interessen von Polen und der Ukraine. Der politische Schaden ist am Ende möglicherweise größer als der ökonomische Nutzen.

Beim jüngsten G7-Gipfel war Angela Merkel eher im Schatten anderer – führt Deutschland genug in einer Welt, in der der „Westen“ in eine tiefe Krise geraten ist?
Wenn wir uns in zehn Jahren treffen und darüber sprechen, was wir heute alles erleben, werden wir wahrscheinlich übereinstimmend feststellen, dass wir Zeitzeugen einer Epochenwende gewesen sind. Es gibt dazu bereits deutliche Hinweise: Amerika nimmt seine Funktion als Ordnungsmacht der Welt nicht mehr in vollem Umfang wahr, China tritt machtvoll auf die Weltbühne, politisch, ökonomisch und militärisch,  G7, G8 oder G20 spielen kaum noch eine Rolle, eine ganz andere Frage wird dafür umso deutlicher gestellt, G2 oder G3: Sind Amerika und China die bestimmenden Weltmächte des 21. Jahrhunderts oder gibt es einen dritten Spieler mit Namen Europa?

Wenn wir der Meinung sind, dass die Europäer diese Rolle spielen sollten, dann geht das nur unter zwei Bedingungen: Europa muss sich einig sein, und Deutschland muss bereit sein, eine verantwortliche Führungsrolle zu übernehmen. Das kann Frankreich nicht allein.

Ein Versagen der Kanzlerin?
Das ist letztlich ein Versäumnis der politischen Klasse in Deutschland, was aber nicht weiter auffällt, da große Teile der Bevölkerung eine solche Führung wahrscheinlich gar nicht wollen. Wir haben uns ganz bequem eingerichtet in dieser Nische der Weltpolitik, aber dafür ist Deutschland zu groß und Europa zu wichtig. Dieses Land braucht Führung und Europa braucht Führung. Nicht im Sinne von deutscher Dominanz, sondern im Sinne von deutschem Engagement, deutscher Verantwortung.

Ursula von der Leyen hat das in ihrer Bewerbungsrede und auch in ihrem Arbeitsprogramm für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin wie ich finde sehr eindrucksvoll dargelegt. Das muss die Richtung sein. Das geht aber nicht, wenn Deutschland entspannt im Sessel sitzt und zuschaut.

Ein Grund liegt ja auch im Zustand der großen Koalition, bleiben Sie dabei: Sie hält nur noch maximal bis Weihnachten?
Es stellt sich mehr und mehr heraus, dass die Frage, ob die Koalition fortbesteht, am Parteitagsbeschluss und an den Personalentscheidungen der SPD hängen wird. Die Aussichten von Scholz, Parteivorsitzender dieser schwierigen Partei zu werden, liegen vielleicht bei 30 Prozent. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit immer noch groß, dass die Koalition den Jahreswechsel nicht mehr erleben wird.

Dann kommt eine CDU/CSU-Minderheitsregierung?
Das wäre der normale, von der Verfassung vorgegebene Weg. Die Frage ist: Mit Bundeshaushalt 2020 oder ohne? Wenn mit, dann geht das für eine gewisse Zeit. Wenn ohne, dann sind es nur ein paar Wochen. Für mich ist die viel wichtigere Frage: Was geschieht eigentlich in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2020? In einer Minderheitsregierung wäre die ganze Regierungsbank mit Unions-Ministern besetzen. Ein Bild, an das wir uns erstmal gewöhnen müssten – 1957 gab es das zuletzt.

Würden Sie gerne dann von dort in den Plenarsaal gucken?
Darüber mache ich mir Gedanken, wenn sich die Frage stellt.

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