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Professur an der Harvard University. Amartya Sen.

© Ekko von Schwichow / C.H. Beck

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels: Gerechtigkeit gibt es nur im Hier und Jetzt

Der indische Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen hält nichts von utopischen Luftschlössern. Ein Porträt.

Von Gregor Dotzauer

In seinem Buch über „Die Idee der Gerechtigkeit“ (2010) erzählt Amartya Sen von drei armen Kindern, die sich um eine Flöte streiten. Das erste erklärt, es habe sie hergestellt. Das zweite ist das einzige, das weiß, wie man auf ihr Musik macht. Und das dritte sieht darin das einzige Spielzeug, das ihm weit und breit zur Verfügung steht. Für den indischen Philosophen und Wirtschaftswissenschaftler liegt darin ein sprechendes Beispiel für die lebensweltliche Tatsache, dass es mit reiner Verteilungsgerechtigkeit nicht getan ist.

Die utopische „Theorie der Gerechtigkeit“ (1972), wie sie der amerikanische Philosoph John Rawls als bis heute mehr oder weniger gültiges sozialdemokratisches Gardemaß formuliert hat, kennt für solche Konflikte tatsächlich keine brauchbare Lösung. Nicht nur, dass man die Flöte schlecht auseinandersägen kann, was sie für alle unbrauchbar machen würde. Rawls hat auch keinen Begriff vom Anspruch auf bestimmte Güter, ein „entitlement“, wie Sen es nennt, das als Kriterium die Entscheidung beeinflusst.

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Dazu kommt, dass er, darin ganz Schüler von Immanuel Kant, seine Vorstellung von Gerechtigkeit als regulative Idee betrachtet, die die pragmatische Notwendigkeit, einem der Kinder im Hier und Jetzt die Flöte zuzusprechen (oder ein salomonisches Zirkulieren zu dekretieren) übergeht.

Jargonfreie Nüchternheit

Amartya Sen, im November 1933 in Westbengalen geboren, kann zwar bis in die tiefsten formallogischen Verästelungen vordringen. Die bildhafte Konkretheit, die ihm dabei vor Augen steht, und die jargonfreie Nüchternheit seines Stils, beschäftigen sich aber vor einem zutiefst persönlichen Erfahrungshintergrund mit der schreienden Ungerechtigkeit des globalen Mit- und Gegeneinanders.

Sein ökonomisches Hauptwerk „Poverty and Famines“ (Armut und Hungersnöte, 1981) lässt sich nicht denken ohne die Hungerkatastrophe, die er, Sohn einer wohlsituierten Hindu-Familie, als Zehnjähriger in Bengalen miterlebte: Sie kostete rund drei Millionen Menschen aus den untersten Schichten das Leben.

Seine Warnung vor der fundamentalistischen „Identitätsfalle“ wiederum (Identity and Violence: The Illusion of Destiny, 2006) basiert sowohl auf einem Sinn für die vielfältigen Einflüsse, die er schon als Schüler der von Rabindranath Tagore in Shantiniketan gegründeten Schule empfing, wie auf den kosmopolitischen Jahrzehnten, die nach dem ersten Studium in Kalkutta folgten: Bis heute lebt er die eine Hälfte des Jahres in den USA, wo er eine Heimat an der Harvard University hat, die andere in Indien.

Feminist, Heterosexueller, Verfechter von Schwulenrechten

„Ich kann mich“, schreibt er gegen Samuel Huntingtons These vom „Krieg der Kulturen“ gerichtet, „zur gleichen Zeit bezeichnen als Asiaten, Bürger Indiens, Bengalen mit bangladeshischen Vorfahren, Einwohner der Vereinigten Staaten oder Englands, Ökonomen, Dilettanten auf philosophischem Gebiet, Autor, Sanskritisten, entschiedenen Anhänger des Laizismus und der Demokratie, Mann, Feministen, Heterosexuellen, Verfechter der Rechte von Schwulen und Lesben, Menschen mit einem areligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte, Nicht-Brahmanen und Ungläubigen, was das Leben nach dem Tode (und, falls es jemanden interessiert, auch ein ,Leben vor der Geburt‘) angeht. Dies ist nur eine kleine Auswahl.“

Mit dieser durch und durch gelebten Haltung ist er ein Vorläufer von Denkern wie Kwame Anthony Appiah, einem schwulen Briten mit ghanaischem Vater, der in New York Philosophie lehrt und sich noch viel mehr als Sen gegen die hirnrissigen Reinheitsgebote identitätspolitischer Aktivisten wehrt.

Wenn nun Amartya Sen den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zugesprochen bekommt und ihn zum Ende der durch eine Flut von Hygieneregeln und Absagen absehbar kläglichen Frankfurter Buchmesse in der Paulskirche erhält, lässt sich gegen diese Entscheidung einerseits wenig sagen.

Selbstverständliche Transkulturalität

Sen ist brillant, aufrichtig, bescheiden, grundsympathisch – und für ein breiteres deutsches Publikum noch zu entdecken. Er steht für eine selbstverständliche Transkulturalität, die sich nicht erst von postcolonial studies zum Blick über den Tellerrand ermuntern lassen muss.

Andererseits ist der Friedenspreis so ziemlich die letzte Auszeichnung, die er noch brauchte: Schon 1998 wurde er für seine Wohlfahrtsökonomie, die in ihrer Social Choice Theory individuelle und gesellschaftliche Interessen zu versöhnen trachtet, mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

So sehr er nun auch noch die Frankfurter Auszeichnung verdient hat, zu der ihm auf Twitter als einer der ersten sein früherer Doktorand Karl Lauterbach gratulierte, feiert sich in ihr auch eine Gesellschaft, die sich in ihrem gesunden moralischen Universalismus nicht auch noch lästige Schuldfragen stellen lassen will.

Diskurspolitisch ist dieser Friedenspreis das Pflaster, das sich die Deutschen nach den Wunden gönnen, die der Streit um den aus Kamerun stammenden Philosophen Achille Mbembe geschlagen hat. Wo dieser zuviel spalterisches Potenzial besitzt, indem er schwierige Fragen in oftmals fragwürdigen Worten an die Weltordnung stellt, oder der jüngere Inder Pankaj Mishra ein unkontrollierbares „Zeitalter des Zorns“ heraufziehen sieh, hat Amartya Sens Grundvertrauen in die zivilisierende Kraft von Demokratien etwas Tröstliches.

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