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Das tunesische Dialogquartett. Die Vertreter der diesjährigen Friedensnobelpreisträger bei einer Veranstaltung im September 2013 (v.l.n.r.): Ouided Bouchamaoui vom Arbeitgeberverband, Houcine Abassi vom Gewerkschaftsbund, Abdessattar Ben Moussa von der Menschenrechtsliga und Mohammed Fadhel Mahmoud von der Anwaltskammer.

© Anis Mili/Reuters

Friedensnobelpreis 2015: Die Retter Tunesiens

Das Osloer Komitee zeichnet das „Nationale Dialogquartett“ mit dem Friedensnobelpreis aus. Der Präsident sieht das ganze Land geehrt.

Houcine Abassi war schon 2014 einer der Favoriten für den Friedensnobelpreis. In diesem Jahr hat der Chef der größten Gewerkschaft Tunesiens UGTT ihn bekommen. „Ich bin glücklich“, sagte ein völlig überraschter Abassi in Tunis, nachdem ihn die Nachricht aus Oslo erreicht hatte. „Dieser Preis krönt unsere Bemühungen, Tunesien aus der Krise zu manövrieren.“ Er teilt sich die Ehre mit Ouided Bouchamaoui, die den Arbeitgeberverband Utica seit 2013 als erste Frau überhaupt führt. Zum „Nationalen Dialogquartett“, dem das norwegische Nobel-Komitee die Auszeichnung nun zugesprochen hat, gehören zudem der Chef der Menschenrechtsliga LTDH, Abdelsattar Ben Moussa, und der Vorsitzende der Anwaltskammer Mohammed Fadhel Mafoudh.

Im Dezember 2010 hatte sich in der tunesischen Provinzstadt Sidi Bouzid der Gemüsehändler Mohammed Bouazizi in einer grausamen Protestaktion gegen das Regime von Diktator Zine al Abidine Ben Ali selbst verbrannt. Das war der Funke, der die tunesische Revolution in Gang brachte. Jener Aufstand, der später auf andere arabische Länder übergriff – und in der Welt als „Arabischer Frühling“ bekannt wurde. Der 68-jährige Abassi, der Mitte November auch mit dem Deutschen Afrikapreis ausgezeichnet werden wird, gehörte zu denen, die 2010 noch vor einem Beschluss der Gewerkschaftsführung Demonstrationen gegen Ben Ali organisiert hatten. 2011 wurde er zum Generalsekretär der Gewerkschaft gewählt, die mit 800 000 Mitgliedern die größte zivilgesellschaftliche Organisation Tunesiens ist. Schon in den Wirren der „Jasmin-Revolution“ gehörte Abassi zu den Gewerkschaftern, die eine deutsche Fabrik in Tunesien vor dem Chaos schützte – und den Arbeitern ermöglichte, den Betrieb aufrechtzuerhalten.

2013 war Tunesien am Rande des Bürgerkriegs

Abassis große Stunde kam aber 2013. Nach dem Mord an einem linken Oppositionspolitiker im Juli brodelte das Land. Die islamistische Übergangsregierung nahm es nach Einschätzung der säkularen Opposition mit der Aufklärung nicht allzu genau. In dieser Situation mobilisierte Abassi die Arbeitgeberpräsidentin Bouchamaoui, den Menschenrechtler Ben Moussa und den damaligen Sprecher der Anwaltskammer, Boubaker Bethabet. Gemeinsam schoben sie einen „Nationalen Dialogprozess“ an. Abassi weigerte sich, mit einem Generalstreik die Regierung zum Rücktritt zu bewegen, und setzte stattdessen auf den Dialog. Die „Neue Zürcher Zeitung“ zitierte ihn vor einem Jahr mit den Worten: „Wir waren auf dem Weg in die Anarchie, das beste Klima für Terrorismus.“ Als vier Wochen später erneut ein Oppositionspolitiker ermordet wurde, „hatten wir das Gefühl, jeden Moment scheitern zu können“. In Sitzungen, die bis zu 20 Stunden dauerten, haben die vier Mediatoren es aber dann doch geschafft, die Säkularen und die Islamisten zu einem Kompromiss zu bewegen. Ihrer Zähigkeit ist es zu verdanken, dass Tunesien nach der erfolgreichen Wahl im vergangenen Herbst als Land gilt, das „auf einem guten Weg ist“, wie der deutsche Botschafter in Tunis, Andreas Reinicke, sagte, als er Abassi mitteilte, dass er den Deutschen Afrikapreis gewonnen hat.

"Wir haben das gemeinsam geschafft"

„Wir haben das gemeinsam geschafft“, sagte Bouchamaoui dem Nobel-Komitee in einem Telefoninterview am Freitag. Dagegen meint der tunesische Politiker Noomane Fehri von der säkularen Tounes-Partei: „Abassi war ganz klar der Chef. Er war so dickköpfig während der Verhandlungen. Er konnte sechs Stunden lang immer wieder dieselbe Frage stellen.“ Reinicke zitierte die Abgeordnete Nadia Chaabane, die über den Gewerkschafter Folgendes gesagt hat: „Abassi hat eine außergewöhnliche Fähigkeit zuzuhören. Er kann über drei oder vier Stunden nichts sagen, auch wenn alle anderen schreien. Dann hat er noch eine große Begabung zusammenzufassen, akzeptable Kompromisse zu finden und zu entscheiden. Der Dialog hat das Land gerettet.“

Unter dem Druck des Quartetts hatten sich die verfeindeten Parteien auf eine Übergangsregierung unter Führung von Mehdi Jomaa, einem studierten Ingenieur, geeinigt, der dann die neue Verfassung durch die verfassunggebende Versammlung brachte. Diese verankerte Glaubensfreiheit und Gleichberechtigung und ist ein demokratischer Meilenstein in der arabischen Welt. Dialog statt Gewalt, das ist das Reformrezept, mit dem Tunesien seinen Weg in die Zukunft gehen will. „Das ist der Pfad des Konsens’“, sagte Tunesiens Staatspräsident Béji Caid Essebsi nach der Nobelpreis-Verkündung. Und er machte klar, dass diese Anerkennung „dem ganzen tunesischen Volk“ gebührt.

Der Generalsekretär der Regierungspartei Tounes, Mohsen Marzouk, sagte vor wenigen Tagen in Berlin, das tunesische Modell habe geholfen, die Spannungen im Land zu minimieren. Konservative und Modernisten müssten zusammenarbeiten, um den Transformationsprozess zu meistern. „Denn ohne politischen Fortschritt wird es keinen wirtschaftlichen Fortschritt geben“, sagte er bei einem Gespräch in der Berliner Konrad-Adenauer-Stiftung. Dies sei der einzige Weg für arabische Länder, fügte er hinzu. Seine eigene Partei gehört dem säkular-konservativen Spektrum an und wird unter anderem von Anhängern des gestürzten Präsidenten Ben Ali getragen. Die Erfolge würden allerdings nicht umgehend, sondern erst in einigen Jahren sichtbar, sagte Marzouk weiter. Er appellierte daher an den Westen, jungen Tunesiern Studienplätze anzubieten, um ihnen Perspektiven zu eröffnen.

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Das Nobel-Komitee hat in seiner Begründung am Freitag besonders hervorgehoben, dass Tunesien den Beweis angetreten habe, „dass säkulare und islamistische Kräfte zum Wohl der Nation zusammenarbeiten können“. Und das sei vor allem dem „Nationalen Dialogquartett“ zu verdanken. Es habe gezeigt, dass die Zivilgesellschaft auf dem Weg in die Demokratie „eine entscheidende Rolle spielen kann“. Das Quartett habe einen „Friedenskongress“ geschaffen, auf den Alfred Nobel in seinem Testament hingewiesen hatte. Sie hoffe, dass der Preis dazu beitrage, diese Erfolge zu sichern, auch wenn Tunesien schwer unter dem islamistischen Terror leide, sagte Kaci Kullman Five, die Vorsitzende des Komitees. Erst im Juni hatten Terroristen eine Ferienanlage in Tunesien angegriffen und 38 Touristen erschossen. Seither sind die Besucherzahlen dramatisch zurückgegangen.

In Deutschland ist die Auszeichnung der „Retter Tunesiens“ positiv aufgenommen worden. Vom Regierungssprecher bis zum Gewerkschaftsbund zeigten sich alle zufrieden mit der Entscheidung. In den Tagen vor der Verkündung waren Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Papst hoch gehandelt worden.

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