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Emmanuel Macron gedenkt im Herbst 2021 den algerischen Opfern von Polizeigewalt 1961 in Paris. Die Leichen wurden in die Seine geworfen.

© Rafael Yaghobzadeh/AFP

Französisch-algerische Beziehungen: Macron glaubt an die Aufklärung - um jeden Preis

Der Präsident korrigiert mutig die offizielle französische Sicht auf die Geschichte - was ihn aber nicht vor Faux-Pas schützt. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Andrea Nüsse

Jetzt zieht er in einen „Zivilisationskampf“ darum, „was Frankreich repräsentiert“, will historische „Traumata“ aufarbeiten: Der französische Präsident Emmanuel Macron liebt die großen Worte, aber diesmal sind sie durchaus angebracht.

Denn Macron bringt seit Beginn seiner Präsidentschaft den Mut auf, sich den Wunden und der Verantwortung für die Kolonialisierung Algeriens und den grausamen Unabhängigkeitskrieg zu stellen – dieses ungeklärte Kapitel der französischen Geschichte vergiftet die französische Gesellschaft und die Beziehungen zwischen Paris und Algier seit mehr als 60 Jahren.

So nahm er als erster französischer Präsident am Sonnabend an der Gedenkfeier für die Anhänger der algerischen Unabhängigkeitsbewegung (FLN) teil, die am 17. Oktober 1961 von der französischen Polizei getötet und bei Nanterre in die Seine geworfen worden waren. Die Verbrechen dieser Nacht seien „unverzeihlich“ für die Republik, hieß es.

Der Schmerz ist auf allen Seiten noch immer groß

Dies war ein weiterer Schritt der Aufarbeitung eines Themenkomplexes, der auf beiden Seiten des Mittelmeeres so schmerzhaft ist, dass niemand sich bisher nachhaltig daran wagte.

Das nordafrikanische Land war zwischen 1848 und 1962 ins Mutterland eingemeindet und bildete drei französische Departements. Der Unabhängigkeitskrieg zwischen französischer Armee sowie den Algeriern, die auf französischer Seite kämpften – die Harki, die später meist ihrem Schicksal überlassen wurden – und der algerischen Widerstandsbewegung FLN hat tiefste Wunden hinterlassen.

Ebenso die anschließende Vertreibung der Siedler-Franzosen, die teilweise seit 130 Jahren und über Generationen das Land mit aufgebaut hatten und in Frankreich nicht mit offenen Armen empfangen wurde. Enttäuschungen und Konflikte wurden beschwiegen oder mit offizieller Geschichtsschreibung lange verdeckt und schwelen daher bis heute auch in der französischen Gesellschaft.

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Bereits Ende September hatte Macron 18 Nachfahren von Unabhängigkeitskämpfern, Harkis und Kolonialfranzosen zum Austausch in den Elysée-Palast eingeladen. Das beherrschende Thema war das jeweilige Leid, das ganz offensichtlich vererbt wurde. Dieses Treffen war einer der Vorschläge, die der Historiker Benjamin Stora gemacht hatte in seiner von Macron in Auftrag gegeben Aufarbeitung der Erinnerung an die Kolonialisation und den Krieg in Algerien.

Algier sperrt als Antwort seinen Luftraum für französische Flugzeuge

Geleitet wird dieses Projekt von Macrons unerschütterlichem Glauben an die Aufklärung. Doch die Hoffnung, jetzt wäre Algier mit einer ähnlichen Selbstreflektion dran, erfüllte sich nicht: Völlig zu recht, aber schon recht undiplomatisch, warf Macron dem „politisch-militärischen System“ in Algier vor, dass es zu seinem eigenen Machterhalt an einer offiziellen Geschichtsschreibung festhält, in der Frankreich allein für alle Übel des Landes verantwortlich gemacht werde. Aber genau weil das so ist, hat das abgehalfterte, von der Armee aufrecht erhaltene Regime dünnhäutig reagiert und gleich mal den Luftraum für französische Flugzeuge gesperrt. Die Bunkermentalität in Algier ist derzeit stark ausgeprägt.

Völlig unerklärlich ist dagegen, warum Macron im gleichen Atemzug in alter Kolonialherrenmanier in Frage stellte, ob es vor der französischen Kolonialisierung ab 1830 überhaupt eine algerische Nation gegeben habe. Das ist das gleiche unhaltbare Argument, das auf israelischer Seite regelmäßig herangezogen wird, um den Palästinensern einen eigenen Staat zu verweigern. Das finden auch algerische Regimekritiker anmaßend – und so ist Macron derzeit bei allen der Buhmann.

Offensichtlich ist es wirklich schwer, sich aus jahrzehntelangen Narrativen zu lösen. Aber dennoch: In Frankreich selbst zeigt die neue Sprachfähigkeit langsam Wirkung. Und sie bleibt der einzige Weg, die französische Gesellschaft und eines Tages auch die algerisch-französischen Beziehungen zu befrieden.

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