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Franziska Giffey (SPD), Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

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Franziska Giffey im Interview: „Wenn du weit kommen willst, geh’ gemeinsam“

Franziska Giffey über die Aufgaben einer künftigen SPD-Vorsitzenden, die Notwendigkeit von Regeln und die Entscheidung über ihre Doktorarbeit.

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Frau Giffey, die große Frage zu Beginn: Ist die SPD noch zu retten?

Natürlich! Die SPD hat eine wichtige Aufgabe. Sie hat nicht nur eine Daseinsberechtigung. Ich bin überzeugt, dass Deutschland eine starke soziale und demokratische Kraft braucht, um auf lange Sicht Frieden und Wohlstand zu bewahren.

Es gäbe da ja auch noch die Grünen …

Die Grünen können das nicht ersetzen. Die SPD ist eine Volkspartei. Und zwar in dem Sinne, dass sie einen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Interessen schafft – Klimaschutz ist ein Thema, aber eben nicht das einzige. Wir müssen genauso für soziale Gerechtigkeit und eine gute wirtschaftliche Entwicklung des Landes sorgen. Aus diesem Dreiklang zwischen dem Sozialen, dem Ökologischen und dem Ökonomischen, entsteht Zukunftsfähigkeit.

Die Grünen können Klimapolitik und sonst nichts?

Mir geht es um uns – darum, was die SPD kann.

Vielleicht ist die Zeit der Volksparteien mit ihrem breiten Ansatz vorbei.

Das glaube ich überhaupt nicht. Wie will man denn die komplexen Fragen unserer Zeit lösen, wenn man nicht breit aufgestellt ist?

Wozu denn?

Viele Menschen in Deutschland haben Sorgen oder Ängste vor der Zukunft, eigentlich geht es ihnen ganz gut, aber sie sind sich nicht sicher, ob das so bleibt, ob sie ihren Lebensstandard halten können. Es geht also letztlich darum, ob Menschen mit Zuversicht in die Zukunft blicken. Und ob diejenigen, die politische Verantwortung tragen, dafür sorgen, dass alle am Wohlstand teilhaben können. Dann gibt es zum Beispiel auch die notwendige Akzeptanz für eine engagierte Klimapolitik. Die Dinge hängen eben zusammen.

Was muss eine Sozialdemokratin, was muss ein Sozialdemokrat können, um die Partei aus der Existenzkrise zu führen?

Es ist wichtig, dass wir uns auf unseren Kern besinnen – auf unsere Grundwerte seit über 150 Jahren: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Diese Werte sind doch nicht veraltet, es braucht sie auch für eine moderne Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Aber sie müssen mit neuem Leben und den heutigen politischen Antworten gefüllt werden.

Klingt vage.

Das ist aber die Grundlage für alles Weitere. Was heißt denn Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität heute? 80 Prozent der Menschen in unserem Land geht es gut, sie können gut von ihrem Einkommen leben. Das ist auch sozialdemokratischer Politik in den letzten Jahrzehnten zu verdanken. Aber 20 Prozent sind in einer sozial eher schwierigen Lage. Sie haben ein geringes Einkommen oder sind im Sozialleistungsbezug. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in solchen Verhältnissen. Die Frage ist, was wir tun können, um Menschen dabei zu unterstützen, aus ihrer schwierigen sozialen Lage herauszukommen – für ein selbstbestimmtes, freies Leben. Das ist die Idee eines aktivierenden Sozialstaates, der Menschen nicht nur versorgt, sondern vor allem auch befähigt – für mich der Kern der Sozialdemokratie.

Die SPD als Partei der Abgehängten?

Die SPD ist die Partei der Arbeit und der Arbeitenden. Sie tritt für gute Arbeitsbedingungen und faire Bezahlung ein und ist Schutzmacht für die, die prekär beschäftigt sind, die als Paketboten in der digitalisierten Welt unter schlechten Bedingungen Waren ausliefern. Für die, die als Sub-Sub-Unternehmer ohne jegliche soziale Absicherung auf dem Bau schuften. Oder für die 5,7 Millionen Menschen in Deutschland, die in sozialen Berufen arbeiten und oft zu wenig verdienen – 80 Prozent davon sind übrigens Frauen. Es muss uns um die gehen, die täglich hart arbeiten und bei denen es am Ende des Monats doch kaum für die Miete reicht. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich diese Menschen abgehängt fühlen.

Noch einmal die Frage: Was muss ein SPD-Chef oder eine SPD-Chefin können, um die SPD zu retten?

Wer auch immer es macht, muss unsere Werte Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit glaubwürdig vertreten – mit Zuversicht, Tatkraft und einer klaren Sprache, die Kopf und Bauch erreicht und auch manchmal deutlich macht, was nicht geht. Menschen haben ein Recht darauf, alle nötige Unterstützung zu bekommen. Aber die Gesellschaft als Ganzes braucht auch klare Regeln.

Warum sind Ihnen Regeln so wichtig?

Weil soziale Gerechtigkeit und Freiheit ohne Regeln nicht funktionieren – weil Leute frustriert werden, wenn sie selber ein Parkticket bekommen, aber der Drogendealer an der Ecke weitermacht. Weil Integration für alle gefährdet ist, wenn organisierte Kriminalität durchkommt und weil die Demokratie in Gefahr ist, wenn Rechtsextremismus und Rassismus sich Bahn brechen. Wenn der Eindruck entsteht, manche können sich durchlavieren, dann wird es schwierig. Hier braucht es klare Stoppsignale – und dann muss der Staat auch handeln und das durchziehen. Ich bin mir sicher, dass viele Bürgerinnen und Bürger genau das von uns erwarten, dass wir Regeln konsequent durchsetzen und für Ordnungs- und Leistungsprinzipien eintreten.

Hat die SPD in den letzten Jahren zu wenig darauf geachtet, Regeln durchzusetzen?

Ich würde sagen, es ist ein wenig aus dem Fokus geraten.

Was passiert, wenn die Politik den gegenteiligen Eindruck erweckt?

Dann wenden sich Menschen ab, weil sie sich in dem, was sie täglich sehen, was ihnen Sorge bereitet, nicht verstanden fühlen. Immer mal wieder höre ich dann, wenn ich vor Ort unterwegs bin: Es kann doch nicht sein, dass die Politik das nicht in den Griff bekommt.

Ist Ihre Haltung in der SPD denn auch mehrheitsfähig?

Ich denke ja. Nur wenn wir beides können, die ausgestreckte Hand für Hilfe und Unterstützung und das Stoppsignal, werden wir den Grundwerten unserer Partei gerecht.

Sie könnten die Defizite der SPD ja angehen und für den Parteivorsitz kandidieren.

Mir geht es vor allem darum, dass wir einen guten Weg für die SPD finden. Sie können sicher sein, dass ich dazu meinen Beitrag leisten werde.

Was ist daran so schwer?

Der Vorsitz der SPD bringt große Verantwortung mit sich. Das sollte keine leichtfertige Entscheidung sein – für niemanden. Ich bin seit etwas mehr als einem Jahr Familienministerin, also noch frisch in der Bundespolitik. Ich habe hier jede Menge zu tun und ich konzentriere mich gern auf meine Aufgaben. Und für mich ist das alles auch immer eine Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Haben Sie sich für Ihre Entscheidung eine Frist gesetzt?

Nein. Ich werde mir die Zeit nehmen, die es braucht, um diese Frage zu überdenken und mich dann rechtzeitig dazu äußern.

Können Sie sich eine Doppelspitze mit Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil vorstellen?

Diese Frage steht jetzt nicht an. Generell habe ich Sympathien dafür, große Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen. Es gibt ein chinesisches Sprichwort: Wenn du schnell laufen willst, geh’ alleine. Wenn du weit kommen willst, geh’ gemeinsam.

Manche in der SPD werfen Ihnen vor, Sie hätten sich stets gegen die Partei profiliert und wenig für sie getan …

Das ist Quatsch. Ich habe immer hart für die Sozialdemokratie gearbeitet. Ich war viel an der Parteibasis unterwegs, in Ortsvereinen und Kreisverbänden. Und ich vertrete jeden Tag in allem, was ich in meiner Arbeit in Berlin und vor Ort tue, sozialdemokratische Politik.

Die dänischen Sozialdemokraten haben mit einer linken Sozialpolitik und einer strikten Migrations- und Integrationspolitik die Rechtspopulisten bei der Wahl mehr als halbiert. Ein Vorbild für die SPD?

Natürlich müssen wir uns anschauen, wie die dänische Schwesterpartei wieder so erfolgreich werden konnte. Was denn sonst? Es ist doch ganz einfach: Arbeit muss sich lohnen, Menschen, die Hilfe brauchen, müssen sie bekommen, Regeln müssen durchgesetzt werden – in der Flüchtlings- und Integrationspolitik genauso wie in allen anderen Bereichen. Integration durch Normalität. Für alle gilt das Gleiche. Anders funktioniert es nicht.

Manche in der SPD sagen, Sie dürften nicht Vorsitzende werden, weil sie wegen der Plagiatsvorwürfe gegen ihre Promotion eine Hochrisiko-Kandidatin seien.

Die Sachlage ist ja klar: Die Universität prüft, das Ergebnis müssen wir abwarten.

Wenn es um die Rettung der SPD geht, wie wichtig ist da die Frage, ob eine Doktorarbeit allen Vorschriften genügt?

Für die Rettung der SPD müssen viele ihren Beitrag leisten. Ich werde das auch tun. Die Doktorarbeit wird geprüft. Mit dem Ergebnis werde ich umgehen.

Ihr Rechtsanwalt hat in einem Schreiben an die FU Berlin erklärt, Ihre Doktormutter habe Ihnen die weniger strenge „amerikanische Zitierweise“ empfohlen. Suchen Sie einen Sündenbock?

Darum geht es nicht. Der Ball liegt bei der Universität. Die Prüfung läuft.

Ihre Kabinettskollegin Ursula von der Leyen (CDU) soll Präsidentin der EU- Kommission werden. Vor der Kabinettssitzung am Mittwoch haben Sie ihr lachend die Hand gegeben. Haben Sie ihr gratuliert?

Nein. Sie ist doch noch gar nicht im Amt. Ich habe sie einfach nur als Kabinettskollegin freundlich begrüßt. So wie immer.

Die SPD ist empört über Leyens Nominierung und hat dafür gesorgt, dass sich Deutschland im EU-Rat enthalten musste. Ist der Widerstand gerechtfertigt?

Das Verfahren der letzten Wochen gibt kein gutes Bild ab. Da treten Spitzenkandidaten an, präsentieren sich im Wahlkampf und dann wird jemand anderes nominiert. Das ist, was demokratische Legitimation anbelangt, schwer zu vermitteln. Und dennoch sind wir in einer Lage, in der keiner der Spitzenkandidaten mehrheitsfähig war und eine Lösung gefunden werden muss. Denn klar ist auch: Die EU muss handlungsfähig sein.

Ist Ursula von der Leyen eine gute Wahl?

Ursula von der Leyen ist eine respektable Persönlichkeit und es ist eine Chance, dass erstmals eine Frau Präsidentin der EU-Kommission werden kann. Nun wird sie darlegen müssen, wie sie sich ein zukunftsfähiges Europa vorstellt. Dazu gehört auch, zu erklären, wie wir Europa demokratischer machen, sodass sich ein Verfahren wie dieses Mal nicht wiederholt.

Auf dem SPD-Parteitag im Dezember steht auch eine Entscheidung über den Fortbestand der Großen Koalition an. Muss die SPD raus aus der Groko?

Diese Große Koalition ist besser als ihr Ruf. Wir sind angetreten, einen anständigen Regierungsjob zu machen, nicht um uns zu streiten. Wir sollten endlich aufhören mit den schrecklichen Endzeit-Debatten. Wir haben so viele Projekte, die Menschen in Deutschland helfen können – das Gute-Kita-Gesetz, das Starke-Familien-Gesetz, das Recht auf Ganztag in der Grundschule, die Grundrente, den sozialen Wohnungsbau, gute Verkehrsverbindungen oder eine bessere Pflege. Das sind die Fragen, die die Leute bewegen.

Muss die Zusammenarbeit von Union und SPD besser werden, wenn die Koalition noch eine Chance haben soll?

Wir haben an vielen Stellen eine gute Zusammenarbeit. Am Mittwoch werde ich gemeinsam mit Innenminister Seehofer und Landwirtschaftsministerin Klöckner die Ergebnisse der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ vorstellen – mit vielen Beschlüssen, die Deutschland gerechter und stärker machen. Mir gefällt es gar nicht, dass jeder Kompromiss schlechtgeredet wird. Politik ist immer die Kunst des Möglichmachens. Das ganze Leben ist ein Kompromiss.

Damit werden Sie aber keinen SPD-Parteitag begeistern …

Natürlich muss man wissen, wo die 100 Prozent liegen, was SPD pur ist. Aber dann muss man doch real überlegen, was ist machbar und was nicht, wofür kämpft man und wofür nicht. Das muss man dann vertreten – und zwar richtig.

Wie?

So, dass die Leute drei Sachen können: verstehen, behalten, gut finden. Wenn sie dann noch die Erfolge auch mit der SPD verbinden, ist schon viel gewonnen.

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