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Präsident Emmanuel Macron im Gespräch mit dem Flüchtling Ahmed Adam (li.) aus Sudan. Ist das nun ein Muslim und wenn ja, ist er eine Bedrohung für republikanischen Werte? (Archivbild)

© Michel Spingler/Foto: REUTERS

Frankreich und der Islam: Wenn Jungfräulichkeit die Republik bedroht

Ein Gesetzpaket soll den "Respekt republikanischer Werte" stärken. Der verhärtete Laizismus führt zur Stigmatisierung aller Muslime. Ein Gastbeitrag.

Hana Jaber ist Historikerin mit Schwerpunkt Migration und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte der zeitgenössischen arabischen Welt am College de France.

Die französische Republik, deren einer Grundpfeiler die "laicité" ist, tut sich schwer im Umgang mit Religion. Präsident Emmanuel Macron ist da keine Ausnahme.

Und er hat nun weitreichende Pläne zur Einhegung insbesondere einer Religionsgemeinschaft, der Muslime.

War zu Beginn seiner Amtszeit die Rede davon, den „Kommunitarismus“, die Herausbildung von gesellschaftlichen Parallelwelten zu bekämpfen, so ist seit Februar 2020 im offiziellen Diskurs nur noch vom Kampf gegen den „Separatismus“ die Rede.

Religionsgemeinschaften sollen an die Kandare gelegt werden

Angesichts der Emotionen, die durch die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty am 16. Oktober in Conflans Saint-Honorine und dann die Terroranschläge am 29. Oktober in der Basilika Notre-Dame in Nizza ausgelöst wurden und aus Angst vor einer weiteren Vertiefung der Bruchlinien in der französischen Gesellschaft, wurde es schließlich als dringend notwendig angesehen, ein Gesetz „zur Stärkung der republikanischen Werte“ auszuarbeiten. Um den sogenannten Separatismus zu bekämpfen, soll die Kontrolle von Religionsausübung und Religionsgemeinschaften verschärft werden.

Die Änderung der Terminologie ist vielsagend. Der Gesetzentwurf, der im Dezember auf den Tag genau zum 115. Jahrestag des Gesetzes über den Laizismus von 1905 im Ministerrat diskutiert und öffentlich gemacht wurde, ist ausgesprochen politisch.

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Die Exekutive mag zwar behaupten, dass es sich um ein „Gesetz für die Freiheit“ handelt, dass es nicht „gegen Religionen und nicht gegen den Islam“ gerichtet ist; Tatsache ist, dass seine Geschichte, der Kontext und sein Inhalt es zu einem folgenschweren Anti-Terror-Gesetz machen, das – ohne Muslime oder den Islam je beim Namen zu nennen – das Leben für diesen Bevölkerungsteil der französischen Gesellschaft besonders gesetzlich regelt.

Teilweise werden nur existierende Gesetz bekräftigt und gebündelt

Zum „Stärkung der republikanischen Werte“ wird eine breite Palette von Themen, die vom Privatleben bis ins Geopolitische reichen, als Gefahr definiert und daher gesetzlich geregelt: Jungfräulichkeit, Polygamie, Zwangsehen,Erbschaft, Sportpraktiken, Stundenpläne, Hausunterricht, Schulen ohne Vertrag, öffentliche Räume, Predigten, Moscheen, Online-Hassreden, Beifall für Terrortaten, behördliche Schließungen, sofortige Gerichtsverhandlungen.

Dieses bunte Durcheinander von Gesetzen und Regelungen soll dazu dienen, einen „atmosphärischen Dschihadismus“ zu bekämpfen, wie der französische Islam-Experte Gilles Kepel es nennt. Teilweise bereits existierende Gesetze werden bestätigt und in diesem Paket neu zusammengefasst.

Schülerinnen einer muslimischen Privatschule in Toulouse. Im Kampf gegen Parallelgesellschaften werden alle Muslime stigmatisiert.
Schülerinnen einer muslimischen Privatschule in Toulouse. Im Kampf gegen Parallelgesellschaften werden alle Muslime stigmatisiert.

© ERIC CABANIS/AFP

Damit werden unabhängig von ihrer kulturellen, geografischen und sozialen Vielfalt sowie ihres jeweiligen Verhältnisses zur Religion Muslime oder vermeintliche Muslime wahllos in einer imaginären Gemeinschaft zusammengefasst.

An sie richtet sich die klare Botschaft: Die Republik Frankreich beglückt euch mit einem Sondergesetzpaket, das euch kollektiv unter das besonders wachsame Auge der Marianne stellt, die die Republik symbolisiert.

Der Laizismus droht selbst zur Ideologie zu werden

Die Laizität, diese so französische Leidenschaft der strikten Trennung von Kirche und Staat, wird durchaus kontrovers diskutiert. Er ruft Ängste hervor, führt zu Polemiken und Missverständnissen. Der Soziologe Farhad Khosrokhavar spricht bereits von einer „laizistischen Ideologie“.

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Die Polarisierung führt dazu, dass bei Befürwortern eine starke Gereiztheit und gesteigerte Erregbarkeit zu beobachten sind. Denn die ethischen und politischen Grundlagen des französischen Gesellschaftsvertrags werden durch neue Akteure und soziale Ungleichheiten in Frage gestellt, die sich aus der Kolonialgeschichte und der Migration ergeben.

Zwar zeigen soziologische Studien, dass die Mehrheit der Muslime in Frankreich integriert ist und die Gesetze der Republik in gleicher Weise befolgt wie ihre Mitbürger. Dennoch herrscht eine essentialistische Darstellung dieser Bevölkerungsgruppe vor, die durch Terroranschläge und die politischen Debatten in den Medien befeuert wird.

Immer wieder einzelne Bilder von Menschen, die den Koran schwenken

Diese Vision eines monolithischen Islams, in dem verrückte Fanatiker jeden Missetäter, der ihren Propheten kritisiert, sogleich hinrichten, breitet sich seit den 90er Jahren in der französischen Gesellschaft aus. Auslöser war der Bürgerkrieg in Algerien, in dem sich islamistische Gruppen und staatliche Truppen mit größer Grausamkeit auf beiden Seiten bekämpften.

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Angefeuert durch die Terroranschläge in den USA vom September 2001, durch die Gräueltaten des sogenannten Islamischen Staats, verbreiteten sie sich in den Medien Bilder wütender Menschenmengen, die in Bangladesch, Pakistan oder Malaysia demonstrieren, den Koran schwenken und westliche Flaggen verbrennen.

Der Boykott französischer Waren fand gar nicht statt

Schaut man sich jedoch den politischen Kontext in diesen Ländern an, werden die Bilder wütender Menschenmassen auf ihr wahres Maß reduziert: Die Menschen wären ohne die Zustimmung der jeweiligen Regime niemals auf die Straße gegangen und sind nicht repräsentativ für die tatsächliche Geisteshaltung in diesen Gesellschaften.

Auffällig ist vielmehr, dass die offiziellen Reaktionen der Regierungen muslimischer Länder in völliger Übereinstimmung mit denen der religiösen Autoritäten waren: Die barbarischen Akte der Enthauptung Samuel Patys und des Angriffs auf die Basilika von Notre-Dame in Nizza hat die Sprecher verschiedener arabischer Länder nicht daran gehindert, wahre Tiraden gegen die Veröffentlichung der Karikaturen abzufeuern.

Das war dann aber auch schnell wieder vorbei. Ebenso wie der angebliche Boykott französischer Waren, der in den offiziellen arabischen Medien, in sozialen Netzwerken und vom qatarischen Fernsehsender „Al Jazeera“ in einer Endlosschleife verbreitet wurde – er beschränkte sich am Ende darauf, den Streichkäse „La Vache qui rit“ aus den Regalen einiger Supermärkte zu entfernen.

In muslimischen Ländern steht die Religion meist im Dienst der Machthaber

Es ist wichtig, die Komplizenschaft zwischen den politischen Regimen und den religiösen Autoritäten in den arabischen Ländern zu unterstreichen: Nicht nur verhindert sie jede Debatte über eine Säkularisierung des Staates, sie führt zur Ausformung eines eigenen, offiziellen Islam in jedem Land, der im Dienste der Machthaber steht und jeder spirituellen und theologischen Dimension entbehrt.

Er wird in den Moscheen gepredigt und verhindert jede kritische Annäherung der Gläubigen an diese genormte Version. Die Gesellschaften werden unter einer bleiernen Decke intellektuell und moralisch erstickt.

Die Geschichte des Islam, seine verschiedenen Schulen und sein theologischer Reichtum bleiben unbekannt und unzugänglich: Denn die arabischen Medien und die Sozialwissenschaften haben sich dieser Geschichte nie als Forschungs- oder Debattengegenstand angenommen. Doch die westlichen Gesellschaften dürfen sich nicht von diesem Zerrbild des Islam und der Muslime leiten lassen. Übersetzung aus dem Französischen: Andrea Nüsse

Hana Jaber

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